Nach Kunstfehler:350.000 Euro Schmerzensgeld für Behinderung

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Nach einem ärztlichen Kunstfehler ist ein Bub schwerstbehindert. Das Oberlandesgericht bestätigt die hohe Entschädigung und weist das Berufungsverlangen der Stadt als "peinlich" ab.

Ekkehard Müller-Jentsch

Geiz ist grausam. Erst wurde aufgrund eines medizinischen Kunstfehlers in einer städtischen Klinik ein Kind mit einer schwersten Behinderung geboren. Dann wollte man diesen völlig hilflosen Menschen mit einem möglichst geringen Schmerzensgeld abfinden. Zynische Begründung: Die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit des Buben sei fast vollständig aufgehoben - er werde sich seiner Situation nicht bewusst.

Doch das Oberlandesgericht München hat der beklagten Landeshauptstadt und ihrer Versicherung in einem bemerkenswerten Beschluss nun regelrecht die Leviten gelesen. Der Bub wird jetzt ein Schmerzensgeld erhalten, dessen Gesamthöhe in Deutschland bisher unerreicht sein dürfte.

Trotz Warnung falsches Medikament verabreicht

Die Mutter des Kindes war 1996 kurz vor dem berechneten Geburtstermin in das Krankenhaus Harlaching gebracht worden, weil sie einen vorzeitigen Blasensprung hatte. Obwohl die Frau schon frühzeitig darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie auf Medikamente mit dem Wirkstoff Propyphenazon allergisch reagiere, dies auch in alle Krankenunterlagen und in den Mutterpass eingetragen war, gab ihr eine Hebamme Präparate mit diesem Wirkstoff.

Innerhalb weniger Minuten erlitt die Hochschwangere einen Kreislaufschock. Das Kind musste durch sofortige Notmaßnahmen zur Welt gebracht werden. Der Junge ist seither vollkommen hilflos und wird dies bis an sein Lebensende sein.

Kind bleibt bis ans Lebensende völlig hilflos

Er ist nicht in der Lage, sich selbstständig zu drehen, abzustützen oder gar zu robben. Sitzen kann das Kind nur, wenn es in einem Spezialstuhl angeschnallt wird. Bewegungen sind unkoordiniert, ein zielgerichtetes Greifen ist völlig unmöglich. Das Kind kann also weder alleine essen noch spielen oder sich irgendwie selbst beschäftigen - auch Sprechen ist unmöglich.

Trotzdem ist es geistig rege: Er versteht seine Eltern, nimmt erkennbar an Gesprächen Anteil, kann sich freuen, verfolgt seine Umwelt mit den Augen, liebt Fernsehen und Musik. Der Bub zeigt aber auch tiefe Traurigkeit und Unzufriedenheit, wenn er wieder einmal erkennen muss, vollkommen hilflos zu sein. Er wurde trotz der extremen Behinderung in einem Spezialkindergarten gefördert und wird inzwischen sogar in einer besonderen Schule unterrichtet.

"Aufblähung des Schmerzensgeldgefüges"

Die Richter der 9. Zivilkammer beim Landgericht München I hielten in einem Schmerzensgeldprozess nach aufwändiger Beweisaufnahme angesichts der ungewöhnlich tragischen Umstände 350.000 Euro als einmalige Zahlung für angemessen, sowie bis ans Lebensende monatlich 500 Euro Schmerzensgeldrente (die SZ berichtete).

Dagegen hatte die beklagte Stadt Rechtsmittel eingelegt. Sie meinte, ein solch hohes Schmerzensgeld dürfe der Versichertengemeinschaft nicht zugemutet werde und führe bloß zu einer "Aufblähung des allgemeinen Schmerzensgeldgefüges".

Schmerzensgelder auf dem Niveau von Almosen

Der 1. Senat des Oberlandesgerichts hat die Berufung nun abgewiesen. Das Ansinnen der Beklagten, dem Kind lediglich 127.822 Euro zuzusprechen, bezeichneten die Richter als "peinlich". Sinngemäß heißt es in dem Beschluss: Es könne schon sein, dass die Stadt beziehungsweise ihre Versicherung alten Zeiten nachhängen würden, in denen sich die deutsche Rechtsprechung damit begnügt habe, auch bei groben ärztlichen Kunstfehlern den Betroffenen Schmerzensgelder auf dem Niveau von Almosen zuzusprechen. Doch die neueren Entscheidungen diverser Obergerichte hätten gezeigt, dass hier ein Wandel eingetreten sei.

Deshalb könne man auch einfach frühere Schmerzensgeldurteile als Maßstab heranziehen. Denn es seien sowohl die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, die Geldentwertung und vor allem auch die veränderten allgemeinen Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Dann bescheinigte der OLG-Senat den Richtern der ersten Instanz ausdrücklich, in dem Fall sorgfältig ermittelt und korrekt geurteilt zu haben (Aktenzeichen: 1 U 2640/05).

© SZ vom 21.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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