Mythos Wiesn:Die Poesie des Rauschens

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Ein Riesenspaß und todernst, sehr leise und gleichzeitig außerordentlich laut. Menschen drängen über den Festplatz und Fahrgeschäfte rasen gen Himmel. Doch in manchen Sekunden scheint die Welt still zu stehen. Das Oktoberfest ist ein Mysterium.

Von Frank Müller

Uschi Dämmrich von Luttitz ist das Wiesn-Aushängeschild des Bayerischen Fernsehens und als solches dafür bekannt, in Sendungen voll unfreiwilliger Komik bayerntümelnde Begriffe in hoher Frequenz auszustoßen. Also Worte wie "pfundig". Oder "Gaudi". Oder "meiisdesschee".

Wagemutige lassen sich auf dem Free Fall in die Tiefe fallen. (Foto: Foto: AP)

Doch sie kann auch anders. Bei einem Interview zum Oktoberfeststart sagte sie vor zwei Jahren einige sehr kluge und mit vielem versöhnende Sätze darüber, was die Faszination der Wiesn denn eigentlich ausmacht. "Die Ruhe im Trubel", meinte sie, sei das Besondere, und fügte hinzu: "Ich weiß, das klingt komisch. Ich fühle mich geborgen. Die Wiesn hat für mich etwas Meditatives."

So wie die Wüste ein kaltes Land ist, in dem es sehr heiß werden kann, so ist das Oktoberfest eine sehr leise Sache, bei der es außerordentlich laut zugeht. Eine unschuldige Veranstaltung voller Schmutz und Dreck.

Geschichten voller Tragik und Komik

Eine Kette von Momenten in extremer Zeitlupe, die in Höchstgeschwindigkeit abläuft. Noch im größten Bierzelttrubel, wenn das Bier spritzt, die Massen sich zu einem unerträglichen Gedränge in den Gängen ballen und die Kapelle gerade zum achten Mal den verhassten Blödsinn eines DJ Ötzi intoniert, gibt es für den, der ihn sehen will, stets einen Moment der Poesie.

Den Abteilungsleiter, zum Beispiel, dem die Kollegen einen Gastauftritt als Dirigent spendiert haben und der nun hilflos mit den Händen einen Takt durch die Luft pflügt, den noch kein Musiker jemals gespielt hat.

Das leise Lächeln der Frau Mama, wenn sie am Autoscooter bei der balzenden missratenen Jugend von heutzutage vorbeigeht und sich an die romantische Fahrt damals mit Hubert erinnert.

Den verzweifelten Versuch, des 14-jährigen Max, mit einem Überschlag bei der Schiffsschaukel die Aufmerksamkeit von Jasmin zu erringen, die freilich nur Augen für irgendeinen Fitnessstudio-Proleten beim "Hau den Lukas" hat.

Träume erblühen und zerplatzen

Geschichten wie diese, voller Tragik und Komik, voller Selbstüberschätzung und verkanntem Heldentum, sind es, die nun wieder 16 Tage lang geschrieben werden. Momente, in denen kleine Träume erblühen und wieder zerplatzen, wo sich Mut und Feigheit die Hand reichen, wo die Welt mitten in einem gottserbärmlichen Höllenlärm für Millisekunden still zu stehen scheint - um gleich darauf in einem gewaltigen Radau dem Satan entgegenzurasen.

Wer mit der Fünfer-Looping-Achterbahn fährt, was früher einmal eine Mutprobe war und heute fast schon ein gepflegtes Familienvergnügen ist, der kennt jenen Sekundenbruchteil, der im Grunde so ist wie die gesamte Wiesn: Oben angekommen, kurz nach dem Scheitelpunkt, wenn es nicht mehr weiter hoch, aber auch noch nicht bergab geht - da steht die Bahn, die Zeit, die Welt ganz kurz still. Und dann geht es abwärts und wieder aufwärts und fünf Mal um die eigene Achse. Das Gefühl unbeschwerter Freiheit danach hilft praktisch gegen alle Leiden dieser Welt.

So sehen das zumindest wir Oktoberfestfanatiker. In dem Zusammenhang lässt sich allerdings nicht verschweigen, dass es auch kritische Stimmen gegen die Wiesn gibt. Ein einziges Massenbesäufnis sei sie, heißt es da, eine Gefahr für die Gesundheit, geradezu gefährlich und nicht zuletzt ein Verstoß gegen alle Regeln des Energiesparens.

Tumult in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest. (Foto: Foto: dpa)

Dazu muss zunächst eingeräumt werden, dass Alkoholkonsum auf der Wiesn durchaus vorkommt, ja dass die Wiesnkapellen sogar entsprechend animierende Titel spielen (siehe etwa den Wiesnhit "Oana geht no, oana geht no nei"). Andererseits wird auf Folgen übermäßigen Alkoholgenusses durchaus hingewiesen ("Rätätäää, rätätäää, morgen hamma Schädelweh").

Hoher Bierpreis ähnelt der Ökosteuer

Und letztlich: Ist denn die häufig als überzogen kritisierte Preisgestaltung der Festwirte mit heuer um die sieben Euro pro Maß nicht vor allem ein Versuch, dämpfend auf den Konsum einzuwirken, darin der Öko- oder der Tabaksteuer nicht unähnlich?

Von daher wird man auch die Schankmoral in manchen Zelten als lange verkannten Dienst an der Volksgesundheit werten müssen. So gesehen ist die Wiesnmaß ein völlig überteuertes Getränk, das seinen Preis mehr als wert ist.

So wie überhaupt die ganze Wiesn ein Riesenspaß ist und daher eine hochernste Sache. Da müssen wir nur einen Blick auf die Festwirte werfen. Schon ihre Namen haben einen Klang, der an längst vergangene patriarchalische Zeiten gemahnt: Schottenhamel, Inselkammer, Roiderer, Haberl, Steinberg und auch Wildmoser und so weiter.

Wer es, sollte es denn nötig sein, als Politiker mit solchen Herrschaften aufnimmt, der kann sich sicher sein, dass davon noch Jahrzehnte später geredet wird. So wie vom damaligen Wiesnkrieg zwischen Peter Gauweiler, seinerzeit Kreisverwaltungsreferent, und dem, wie er sich nennen ließ, "Wirte-Napoleon" Richard Süßmeier.

Um welch ein Politikum es sich beim Oktoberfest handelt, das wurde auch Oberbürgermeister Christian Ude früh klar. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit schrieb er sich seine Alpträume, die Anzapfzeremonie betreffend, in Form einer Satire von der Seele.

Doch sie dürften ihn jedes Jahr aufs neue heimsuchen. Kein Wunder: Ein missratener Anstich, mit einem, gottbehüte, vielleicht anschließend durchnässten Ministerpräsidenten, würde problemlos ausreichen, zwei Jahrzehnte allseits anerkannter Amtsführung vergessen zu machen.

Ude? Das war doch der, dem damals der Schlegel aus der Hand fiel? Noch heute ist zum Beispiel Udes Vorvorgänger Erich Kiesl nicht zuletzt deswegen in Erinnerung, weil er einmal das obligatorische "Ozapft is" vergaß und sich anschließend vertat und "Izapft os" ausrief. So etwas bleibt hängen.

Quirl zum Aufschäumen des Noagerls

Insofern ist die Wiesn also wiederum eine tiefernste Sache, die sehr lustig ist. Nur mit diesem Ansatz lässt sich verstehen, warum die Festorganisatorin Gabriele Weißhäupl jedes Jahr mit großem Brimborium die Wiesnneuheiten vorstellt und dann Dinge herauskommen wie die Wiesn Card, mit der man überall auf der Festwiese bargeldlos zahlen kann, nur im Bierzelt nicht. Oder der Bierquirl zum eigenhändigen Aufschäumen eines abgestandenen Noagerls.

Dergestalt werden also die Neuigkeiten sein, die aus München in den kommenden Wochen zu hören und zu sehen sein werden, verbunden mit der großen Abschlussfrage, wie viele Maß Bier, Hendl und Besucher sich am Ende der 16 Tage getroffen haben. Und wer meint, das alles sei doch absolut egal, der hat zwar Recht, aber nur zum Teil. Die Wiesn ist nämlich eine völlig unbedeutende Sache, die ganz enorm wichtig ist.

© münchen erleben vom 8.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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