Lesung:Mit und ohne Kopftuch an vorderster Front

Lesezeit: 3 min

In ihrem vierten Roman "Die Nächte auf ihrer Seite" beschäftigt sich Annika Reich mit der Wechselwirkung von privaten Problemen und Politik am Beispiel zweier Frauen während des Arabischen Frühlings

Von CHRISTINA KOORMANN

Sira fühlte sich wie eine Teilzeit-Ägypterin, wie eine Deutsche mit ägyptischer Sommer-Identität." Sira hat ägyptische Wurzeln, lebt in Deutschland und verbindet außer mit der großen Familie wenig mit der nordafrikanischen Heimat ihrer Eltern. Doch dann bricht der Arabische Frühling in Tunesien aus, und als die Revolution ins nahe Ägypten dringt, gerät die junge Frau während eines Urlaubs bei ihren Verwandten in Kairo mitten in die Proteste auf dem Tahrir-Platz. "Die Stimmung war so euphorisch, dass ihr vor Rührung die Tränen in die Augen stiegen." Hin- und hergerissen zwischen Befremdung und Solidarität, Angst und Euphorie erkennt Sira, dass da noch mehr ist im Leben als das, was ihr bisher wichtig war. Wieder zu Hause in Berlin, stellt sie ihre Lebensweise radikal in Frage.

Die Braut bleibt neutral, während ihr Bräutigam die Fahne der Nationalisten während der Hochzeitszeremonie schwenkt. (Foto: Khaled Desouk/AFP)

"Die Nächte auf ihrer Seite" ist der vierte Roman von Annika Reich. Die gebürtige Münchnerin, die in Berlin lebt, liest an diesem Dienstag in der Buchhandlung Lehmkuhl aus ihrem neuesten Werk, in dem sie der Frage nachgeht, weshalb wir uns so sehr auf uns selbst und unsere Beziehungen fixieren, während um uns herum die Welt explodiert. "Uns wird immer gesagt, wir müssen uns um uns selbst kümmern", sagt die Autorin bei einem Gespräch in einer Schwabinger Bar. "Wir müssen noch eine Therapie machen, noch mal ins Fitnessstudio gehen, und gleichzeitig stehen da Frauen auf dem Tahrir-Platz und kämpfen für ihre Freiheit und ihr Land. Wir kämpfen auf der Couch." Die 42-Jährige war gefesselt von dem, was 2011 in Nordafrika geschah. "Die Bilder von der Ägyptischen Revolution haben mich umgehauen. Vor allen Dingen diese ganzen jungen Frauen, die da an vorderster Front mit oder ohne Kopftuch, flippig und ganz traditionell, Seite an Seite stehen - das hat mich so bewegt und erschüttert, dass ich wissen wollte, wie das für diese Frauen war."

Annika Reichs Hauptfigur ist die Deutsch-Ägypterin Sira. Ihr Blick fokussiert sich durch den politischen Umsturz neu. (Foto: Peter Hassiepen)

In Kairo verteilte sie Steckbriefe und skizzierte die Figur der Sira, um junge Deutsch-Ägypterinnen zu finden, die zufällig 2011 auf dem Tahrir-Platz dabei gewesen waren. Fünf Frauen meldeten sich, die der Schriftstellerin zu authentischen Informationen verhalfen. Während die Romanfigur Sira mit ihrer Identität, ihren Werten und den Erlebnissen in Ägypten kämpft, kämpft ihre Schwägerin Ada, die zweite Hauptfigur in "Die Nächte auf ihrer Seite", für ihre ganz persönliche Unabhängigkeit. Sie hadert mit ihrer Rolle als Mutter. Die Kamerafrau, die in Trennung vom Vater ihrer Tochter lebt, filmt durch ihr Fenster Paare beim Gang über den Hinterhof zu dem dort ansässigen Paartherapeuten. Als "Reigen" treten die Paare im Roman in Erscheinung, in kurzen Sequenzen, die tiefe Einblicke ins Private offenbaren. Wie eine hängen gebliebene Schallplatte beschreibt Reich diese Refrains; noch ein Paar, noch ein Paar, noch ein Paar. "Und immer schau ich noch drauf und schnalle nicht, dass das vielleicht nicht das einzige ist auf der Welt, aber gleichzeitig ist es doch was total Wichtiges. Die Liebe ist total wichtig, und die Paarbeziehung ist total wichtig. Ich wollte es nur gleichzeitig machen und sagen, wenn dir das eine wichtig ist, heißt das nicht, dass du die Welt vergessen musst."

Drei Jahre lang arbeitete Annika Reich an dem Roman. Auch die innerdeutsche Geschichte und die Folgen des Mauerfalls holt sie mit in das Geschehen - eine interessante Parallele. "Was ich beschreibe, ist sehr autobiografisch", sagt die 1973 geborene Autorin und erinnert sich daran, was sie mit 16 erlebte. "Man sitzt vor dem Fernseher und ist euphorisch, und eine Woche später ist es einem schon wieder egal. Da findet man die Trabis süß, total abartig. Nicht nachzufragen, wie geht es euch, braucht ihr Hilfe, oder einfach: erzählt mal."

Als ihre Figur Sira bei der Revolution dabei ist und etwa zeitgleich Adas Ehe in die Brüche geht, knallt auch hier Privates auf Politisches. "Ich finde diese Parallelität sehr interessant", sagt Annika Reich. "Da prallen Welten aufeinander, und eigentlich ist das auch nicht mehr auf die Arabische Revolution begrenzt: Das gleiche passiert auf dem Majdan, es passiert auf dem Taksim-Platz, da sind überall junge Leute. Die sind nicht politisiert, die strudeln da so rein, die kämpfen für ihre Träume und ihre Freiheiten, und wir denken, unsere größte gesellschaftliche Aufgabe ist es, endlich austherapiert zu sein." Mit offenen Augen in eine Welt zu gucken, die nicht zurückguckt, ist ein zentrales Gefühl, das Annika Reich mit ihrem neuen Roman verbindet. Der Moment, in dem die Selbstfokussierung in ein politisches Bewusstsein umschlägt, steht im Fokus ihrer eindrücklichen Geschichte. Auf welcher dieser Seiten träumen wir in den Nächten? Wahrscheinlich auf beiden.

Annika Reich - Die Nächte auf ihrer Seite, Lesung am Di., 28. April, 20 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstr 45, www.lehmkuhl.net 380 15 00

© SZ vom 27.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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