Lebensbedrohliche Routine:Wettlauf mit der Zeit

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Weil Rettungsdienst und Ärzte zu langsam reagierten, wäre ein Junge aus dem Landkreis Starnberg fast gestorben.

Dietrich Mittler

Als der siebenjährige Julius neun Tage nach seiner Mandeloperation am Morgen zu seiner Mutter lief und sagte: ,,Ich blute aus dem Mund'', hatte Claudia M. aus Gilching im Kreis Starnberg allen Grund zur Sorge.

"Ich blute aus dem Mund." (Foto: Foto: oh)

Die 34-Jährige wählte die Notrufnummer, erbrach doch ihr Sohn bereits Blut ins Waschbecken. Claudia M. forderte in der Rettungsleitstelle einen Notarzt an. Doch nach gut zehn Minuten trafen an Stelle eines Arztes zwei ehrenamtliche Helfer, sogenannte First Responder, bei der Familie ein. Es begann ein Wettlauf mit der Zeit.

,,Auf meine Frau und meine Tochter machten diese beiden Ersthelfer einen sehr hilflosen Eindruck'', sagt Helmut Grünert, der Großvater des Buben. Dafür könne man ihnen aber keinen Vorwurf machen. ,,Angesichts der Komplikationen waren die ehrenamtlichen Helfer überfordert'', ist sich Grünert sicher.

Der 60-Jährige steht dem Gesundheitswesen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, ist er doch selbst technischer Leiter einer Privatklinik in Herrsching. Als er den Ärzten dieser Klinik schildert, was seinem Enkel widerfahren ist, sind diese betroffen.

Bald nach den Ersthelfern trafen nach Grünerts Angaben zwar ausgebildete Rettungsassistenten des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) ein, aber wiederum nicht der angeforderte Notarzt. Julius' Lippen färbten sich langsam elfenbeinfarben.

Die Rettungsassistenten reagierten ruhig, dem Großvater viel zu ruhig: ,,Der Transport ins Krankenhaus erfolgte ohne Sondersignal, ohne Blaulicht. Julius wurde im Sanitätsfahrzeug sitzend transportiert und spuckte immer wieder Blut in eine Nierenschale'', notiert Grünert in einem Protokoll der Ereignisse vom 1. Februar 2007. Dem Buben sei noch nicht einmal ein Zugang für eine Infusion gelegt worden.

Im Klinikum Starnberg angekommen, sei der Albtraum weitergegangen: ,,Wir standen eine Zeitlang herum, und es war offensichtlich nicht klar, wer sich um das Kind kümmern soll.'' Julius habe Anzeichen einer Kreislaufschwäche gezeigt.

Der Bitte der Mutter, ihr Kind in die stabile Seitenlage zu bringen, damit das Blut aus dem Mund besser ablaufen könne, habe die Ärztin nicht nachkommen können. ,,Sie wusste nicht, wie man das Kopfteil der Liege flach stellt'', heißt es im Protokoll. Eine Krankenschwester erkannte den Ernst der Situation: ,,Der kollabiert uns, der muss in den OP.''

Kurze Zeit später sei im OP-Bereich Hektik ausgebrochen. Ein Arzt sei herausgestürmt und habe die Mutter angeschrien: ,,Sie hätten nach zehn Minuten hier sein müssen, es besteht Lebensgefahr!''

Gegen 13 Uhr erfuhr Claudia M., dass die Blutungen gestoppt worden seien, das Blut sei aus Magen und Lunge abgesaugt. Julius habe sehr viel Blut verloren, es bestehe weiterhin Lebensgefahr. Julius wurde nach München in die Haunersche Kinderklinik gebracht - nun doch mit Blaulicht.

,,Dass er überlebt hat, ist letztlich dem jungen Operateur in Starnberg zu verdanken'', sagt sein Großvater heute. Grünert gehen immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf: Warum schickte die Rettungsleitstelle trotz der Schilderung der Symptome keinen Notarzt?

Warum haben die Rettungskräfte nicht die Gefährlichkeit der Situation erkannt? Warum verging im Krankenhaus so viel wertvolle Zeit, bis sich endlich ein Arzt um das Kind bemühte?

Im BRK-Kreisverband Starnberg sehen die Verantwortlichen keinen Anlass zur Kritik: Seitens der Einsatzkräfte liege kein Fehlverhalten oder gar schuldhaftes Verhalten vor. ,,Der Transport wurde nicht mit Blaulicht durchgeführt, weil dies eine schonende Transportform ist und weil zum zweiten keine dies rechtfertigende Indikation vorgelegen hat'', heißt es in einem Brief an Grünert.

Der Ärztliche Direktor des Klinikums Starnberg, Peter Trenkwalder, kommt jedoch zu einem ganz anderen Befund: ,,Wir haben natürlich großes Verständnis für die Aufregung der Verwandten des Jungen, die diese lebensbedrohliche Nachblutung miterleben mussten.''

Insgesamt müsse man sagen, dass Nachblutungen nach einer Mandeloperation zu den häufigsten Komplikationen gehörten. Diese können tödlich enden, wenn kompetente Hilfe ausbleibt.

Georg Rötzer, der Bereichsleiter Rettungs- und mobile Dienste beim BRK Starnberg, betonte am Mittwoch erneut, eine akute Lebensgefahr habe zum Zeitpunkt des Transports nicht bestanden.

Der Bub habe nicht einmal mehr geblutet, auch sein Blutdruck sei in Ordnung gewesen. Die starken Blutungen hätten erst im Starnberger Klinikum wieder eingesetzt.

© SZ vom 8.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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