Interview:"Viele begreifen erst jetzt, was eigentlich passiert ist"

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Die Betroffenen der Flutkatastrophe leiden unter seelischen Nöten - doch noch fehlt es an psychologischer Hilfe

Interwiew: Monika Maier-Albang

Thomas Kammerer, Notfallseelsorger im Klinikum Großhadern, betreut dort Opfer der Flutkatastrophe. Nach seinen Erkenntnissen leiden die Menschen unter extrem großen seelischen Belastungen - doch was fehlt, ist psychologische Hilfe.

SZ: In welcher Verfassung haben Sie die Rückkehrer angetroffen? Kammerer: Körperlich sind die Patienten, die wir in Behandlung haben, gar nicht so schwer verletzt. Aber psychisch sind sie alle sehr belastet. Viele begreifen erst jetzt langsam, was eigentlich passiert ist. In den Tagen nach der Katastrophe ging es ja vor allem darum, zu überleben.

SZ: Im Fernsehen sieht man Überlebende, die sehr gefasst, fast schon cool wirken, wenn sie sich von Kamerateams begleiten lassen. Kammerer: Es gehört zu den Schutzmaßnahmen unseres Körpers, dass man erst einmal fast mechnisch weiterfunktioniert. Man rationalisiert, unterdrückt die Gefühle. Das wechselt sich ab mit einer zweiten Phase, wo man von den Gefühlen überwältigt wird.

SZ: Den Menschen wird jetzt erst richtig bewusst, was ihnen widerfahren ist? Kammerer: Teilweise ja. Im Krankenhaus in Thailand oder Bangkok gab es sicher auch Phasen, wo die Gefühle die Oberhand hatten, aber es stand immer noch anderes an: der Wunsch, nach Hause zu kommen, die Sorge um die vermissten Angehörigen. Jetzt, in der sichereren Umbegung, kommen die Dinge hoch. Die Menschen fühlen sich zeitweise ihrer Angst völlig ausgeliefert, handlungsunfähig, orientierungslos. Viele bekommen so genannte flash-backs, sehen die Wassermassen wieder und wieder über sich zusammenbrechen. Sie erleben alles noch einmal, auch ihre Todesangst.

SZ: Lässt das irgendwann nach? Kammerer: Man wird so ein Erlebnis nie ganz vergessen. Aber die meisten Menschen können innerhalb von ein paar Wochen stabiler werden. Das Erlebnis wird dann zu einer Erinnerung, die sich nicht unwillkürlich aufdrängt, sondern aus einer gewissen Distanz betrachtet werden kann. Wie man das Geschehene verarbeitet, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab: Bin nur ich betroffen, oder habe ich Angehörige verloren? Habe ich Menschen, mit denen ich über meine Gefühle reden kann und denen ich auch zutraue, dass sie mich verstehen?

SZ: Welche psychologische Unterstützung gibt es für die Rückkehrer und für Angehörige, die Menschen vermissen? Kammerer: Leider bislang gar keine - aber wir hoffen, bald eine spezielle Hotline für Betroffene anbieten zu können. Im Krankenhaus kümmern wir uns natürlich um die Patienten. Doch wer nicht ins Krankenhaus gekommen ist, hat noch keine Anlaufstelle. Den Rückkehrern wurde geraten, sich an den Hausarzt zu wenden. Die sind allerdings mit so starken seelischen Belastungen oft überfordert. Die Menschen brauchen aber Hilfe, weil sie an sich Reaktionen erleben, die sie noch nie gespürt haben. Sie halten sich für völlig hilflos sich selbst gegenüber, für verrückt. Man muss ihnen sagen, dass das normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis sind.

SZ: Hilft es dem Einzelnen, dass Hunderttausende betroffen sind? Kammerer: Nicht wirklich. So etwas kann man als Betroffener nicht realisieren. Das Problem ist zudem, dass die Betroffenen untereinander keinen Kontakt haben. Bei einem Busunglück etwa kann einen die Gemeinschaft der Mit-Betroffenen stärken. Eine Patientin hat mir erzählt, wie sie nach der Flut mit anderen in einer Halle zusammensaß und die Menschen sich gegenseitig ihre Geschichten erzählten. Es gibt gerade bei den Betroffenen ein großes Bedürfnis nach Mitgefühl. Aber das läuft momentan ins Leere.

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