Homosexuelle Senioren:Gay and Gray

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In der gleichnamigen Selbsthilfegruppe treffen sich Homosexuelle jenseits der Knackigkeitsgrenze - in der Szene haben sie keinen Platz.

Von Bernd Kastner

Lange hat Karl überlegt. Soll ich? Hat sich überwunden. Ist rein gegangen, alleine, hat sich an die Theke gesetzt. Der Hocker klein, rund, unbequem. Die Musik laut. Bitte ein Bier. Karl schaut sich um. Unsicher. Neben ihm an der Bar: junge Männer. Keiner in seinem Alter.

Verstohlene Blicke. Dann fasst er sich ein Herz, spricht den Nebenmann an. Smalltalk. Heiß heute. Das Wetter. Ja, ja. Die Musik. Hhm, ziemliche Schnulze. Pause. Verlegenes Lächeln. Viel los heute. Schweigen. Der andere zahlt, geht. Ciao. Karl bleibt noch. Einsam unter vielen Menschen. Gerald Heinrich ist so alt wie dieser Karl, der fiktiv ist und doch real.

Sechzig-noch-was. Er sagt: Wenn man jemand anspricht in einer Kneipe, einen Jüngeren, weil es in den Szene-Läden ja nur Jüngere gibt, dann denke der doch gleich: Aha, der Alte will ins Bett mit mir, nee danke! Also, meint Heinrich, lässt man es, bleibt gleich zu Hause, auch wenn man keine Hintergedanken hat, sondern nur unter Leuten sein will.

Heinrich sitzt mit drei anderen Männern im Rendezvous, einer Kneipe in Münchens rosa Viertel. Sie reden über's Altsein und Altwerden als Schwule. Theo Kempf sagt: "Viele haben Angst vor doppelter Diskriminierung." Weil sie schwul sind und alt. Ehe sie sich schief anschauen lassen, flüchten sie in die Einsamkeit. Kempf leitet eine Gruppe für schwule Senioren, "Gay and Gray" nennen sie sich. Kempf ist 55 und ein leiser Mann.

Und doch so ziemlich der Lauteste und Energischste, der sich dieses Themas annimmt. Um ihn herum ist Schweigen.

Frank Seger mal ausgenommen. "Mit vierzig bist du ein schwuler Opa." Seger ist so einer. Alten-Aktivist mit 40. Ein Schwuler hat jung zu sein, attraktiv und wohlhabend. Die anderen existieren praktisch nicht. Nicht in der eigenen Community, nicht in der Gesellschaft, und erst recht nicht in der gleichen Altersgruppe. Der homosexuelle Alte, das unbekannte Wesen.

Kempf und Co. kämpfen gegen das Verdrängen. Sie sind froh, dass die Stadt eine Fragebogenaktion gestartet hat. Tausende Bögen hat die Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen drucken lassen, um mehr über die Bedürfnisse älterer Schwuler und Lesben zu erfahren. Dringend nötig, wie auch Oberbürgermeister Christian Ude einräumt: "Diskriminierung und Ausgrenzung von Schwulen und Lesben sind mit den Einrichtungen der Altenpflege bislang nicht thematisiert worden." Mit den Umfrage-Ergebnissen wolle man das nachholen.

Zehn- bis zwanzigtausend Homosexuelle, die älter als 65 sind, leben in München, Tendenz steigend. Während die meisten Heteros eine Familie haben und im Krankheitsfall vom Partner oder von Kindern gepflegt werden, sind Schwule viel mehr auf die Gesellschaft angewiesen. Doch so wenig man über ihre Bedürfnisse weiß, so wenig gibt es für sie. Nichts.

Das Projekt "Schwung", das ein schwul-lesbisches Altenheim einrichten will, ist noch nicht über's Anfangsstadium hinausgekommen. 1996 hat man eine Aktiengesellschaft gegründet, doch bis heute Anteile für gerade mal 50000 Euro verkauft. Nötig wären ein, zwei Millionen, räumt Vorstandsmitglied Gerald Kusche ein. Aufgeben wollen sie noch nicht, aber der Schwung scheint dahin. Dabei klingt der Slogan auf dem Prospekt der AG so dynamisch: "Forever young".

Wer trotzdem altert und niemand hat, muss ins konventionelle Heim. Das wäre doch was, ruft Frank Seger: ein Seniorenheim, das offensiv wirbt: Wir akzeptieren gleichgeschlechtliche Lebensformen! Die meisten Senioren wünschten sich bestimmt kein Schwulen-Getto im Alter, sondern wollen einfach nur akzeptiert sein, ohne viel Aufhebens. In der Altenheimrealität aber könne man im Aufnahmebogen nicht einmal ankreuzen, dass man schwul ist oder lesbisch. Ein Senior ist automatisch heterosexuell. "Normal."

Ob verheiratet oder verwitwet oder geschieden, ob man Kinder hat oder nicht, das interessiert die Heimleitung. Und weil es keine spezifischen Angebote gibt, wagten die wenigsten Schwulen, sich zu offenbaren - aus Angst vor Ablehnung. Woraus die Hausleitungen irrigerweise folgerten: kein Bedarf. Das Verstecken geht also weiter.

Und so sitzen dann die Alten am Kaffeetisch, die einen ziehen stolz Fotos der Enkel aus der Tasche, und daneben sitzt der schwule Senior, lächelt - und hofft auf Themenwechsel.

Wahrscheinlich ginge es Hans auch so. Hans will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, auch nicht seinen Wohnort. Als Treffpunkt hat er einen Platz an der Isar vorgeschlagen, südlich von München. Hier fühlt er sich wohl und unbeobachtet. Muss ja niemand merken, dass er sich mit einem von der Zeitung trifft. Hans ist Jahrgang '36, und so gut wie niemand weiß, dass er schwul ist.

Kein Verwandter und kein Kollege. Früher, in der Arbeit, hat er das Lästern der Kollegen über "die Schwulen" konsequent überhört. Die Münchner Szene hat er ausprobiert, vor Jahren, aber wohl gefühlt hat er sich nie.

Dieses Getue und Gehabe! "Man kann in Gemeinschaft einsamer sein als wenn man allein ist." Hans, der aussieht wie ein Bilderbuch-Opa, sei nicht neidisch auf die Jungen, die heute offen leben. Dann sagt er: "Wenn ich 30 Jahre später geboren wäre, wäre alles anders gelaufen." Hans ist einer dieser "stillen Alten", von denen die Männer im Rendezvous sprechen. Gert, der mit am Tisch sitzt, auch. Er will nur den Vornamen verraten, wegen seines früheren Arbeitgebers. Er sagt: 25 Jahre lang war er "befreundet mit einem Herrn". Vor sechs Jahren ist der "Herr", der sein Partner war, gestorben. Da war Gert schon längst draußen aus der Szene, hatte sich abgekapselt, es habe lange gedauert, bis er den Sprung geschafft hat unter die Menschen, bis er mal ins Café Regenbogen rein ist.

Er hat gesucht nach jemandem, mit dem er Canasta spielen kann. Gefunden hat er niemand. Und in den Seniorentreffs, in den Alten- und Service-Zentren zum Beispiel, da müsse man sich auch verstecken, in dieser Generation ist Homosexualität erst recht ein Tabu. Immerhin, jetzt geht Gert zu "Gay and Gray". Die Gruppe will "emanzipatorisch" wirken, die "Alltagsfähigkeit" erhalten: soziale Kontakte fördern, Freizeit gestalten, Telefonketten und Nachbarschaftshilfe organisieren.

Hans und Gert gehören zu einer Generation, die sich noch an Hitler erinnert und in der Adenauer-Zeit aufgewachsen ist. "Da haben sie das Schweigen gelernt", sagt Theo Kempf. In Zeiten des "175er", jenes berüchtigten Paragrafen, der Schwule einst ins KZ brachte und den die Bundesregierung erst 1994 endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen hat. In "Gay and Gray", erzählt Frank Seger, gibt es Männer, die deshalb noch vorbestraft sind. Die staatliche Gängelei hat ihre Spuren hinterlassen. "Die haben die Verbote und Ängste mit der Muttermilch eingesogen."

"Die" Gesellschaft, das ist das eine. Das andere ist die Community, die "eigene" Szene. "Man muss vor der eigenen Tür kehren", sagt Seger, der 40-jährige "Opa". Müsse sich fragen, ob Jugendkult und Waschbrettbauch das Maß der Dinge sind. Alt - ein Unwort in der Szene. Irgendwie bäh und pfui.

Man ist nicht alt, und wenn doch, ist man draußen. Vielleicht hat die Senioren-Gruppe auch deshalb gerade mal ein Dutzend Mitglieder. Vor ein paar Jahren, erzählt Kempf, hieß das Motto beim CSD: "Wir sind eine Familie." Wie Hohn hat das in seinen Ohren geklungen. "Wo sind denn die Alten in dieser Familie?", fragt Kempf. Dieses Jahr waren sie dabei - zum ersten Mal, ohne Fummel, ganz normal. "Die Community muss bei sich selbst anfangen", sagt Seger.

Im Sub zum Beispiel, dem Schwulen-Zentrum der Stadt, unter dessen Dach auch "Gay and Gray" entstanden ist. Wenn man als Senior rein geht ins Sub, einfach so, dann findet man: keinen Aufzug. Keine normalen Stühle mit Lehne unten an der Theke. Nur unbequeme Barhocker und laute Musik. Kein Anreiz für einen Senior. Das Sub bietet auch Coming-Out-Gruppen an, eine gute Sache, sagen die Männer am Rendezvous-Tisch. Aber dann die Altersbegrenzung. 25 Jahre. Bis dahin hat sich ein Schwuler wohl zu outen.

Gay and Gray trifft sich jeden zweiten und vierten Mittwoch im Monat um 19 Uhr im Sub, Müllerstraße 43. Informationen unter Telefon 17998428.

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