Heilig Abend in München:Alles in Ordnung

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Angst vor Familienwahnsinn am 24. Dezember? Nehmen Sie sich an dem Tag einfach komplett frei! Eine Solotour durch München.

Wolf Reiser

Als ich am Morgen des 24. Dezember 2006 von vier doppelten Mokka angestachelt in mein Hotelzimmer zurückkehre, steht auf dem Schreibtisch ein Körbchen aus Bast, in dem sich Trüffelkugeln, Schnapsbohnen, Dresdener Stollenbrocken und auch Zimtwürfel befinden. Ich hatte bis dato keinen Plan für diesen Tag.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Mit all den Jahren hat es sich der Mensch, von dem hier die Rede ist, im zugigen Tempel einer heiteren Einsamkeit wohnlich gemacht. Doch die ungeschickt und heimlich präsentierte Aufmerksamkeit des Hauses verstört ihn, es kommt so eine Art pränataler Unruhe in ihm auf - es muss etwas geschehen!

Schon gegen 14 Uhr senkt sich feuchtgrauer Nebel, und ich gehe die Maximilianstraße entlang, wissend, dass unser Leben letztlich keinem Kalender gehorcht. Ein rotierendes Symposium aus fetten Stadttauben nimmt vor dem "Roma" Platz. Barmann Gerry, staubsaugend, winkt und deutet entschuldigend auf seine Uhr.

Aus der Fußgängerunterführung hallen Pfennigabsätze. In der Falk-Bar des "Bayerischen Hofs" inspiriert mich der gelbliche Stuckkitsch zu einem Pastis. Eine zierliche ältere Dame mit einem runden roten Hut und einer tuberkulösen Stimme sitzt an der Bar und fragt mich, nach gründlicher Musterung: "Junger Mann, Sie erinnern mich an Claude, einen Kapitän aus Marseille! Sind Sie Claude?" Ich habe gute Lust zu bejahen. Wir sprechen dann über die Florianskastraße in Krakau, die Matrosenbars von Antwerpen, stoßen an und ziehen gelegentlich auch den Barmann mit ein.

Im "Atzinger" komme ich neben einem, wie sich erweist, Tölpel zu sitzen, der eine "Red Bull Fanmeile"-Baseballmütze trägt. Ansonsten findet man dort unter nikotingelben Bildern Paare, schweigend und kauend. Ein Mann erzählt einer Frau mit Bedienungsschürze, dass ihn seine Alte neuerdings nötige, zu Hause die Schuhe auszuziehen, er, Schuhe ausziehen, aber da habe sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Die Bedienung meint nach einigem Überlegen, dass im Universum nichts verlorengehe und Energie sich ohnehin selbst erhalte, und zwar hundertprozentig. "Mag sein", antwortet der Pantoffelheld nach einer Denkpause.

In der Schellingstrasse sehe ich in Umrisse von Menschen mit Mänteln, die Kofferräume öffnen und dort Säcke mit gebrauchter Wäsche sowie als Geschenke verpackte Mitbringsel verstauen. Alle geben in Intervallen Atemwolken von sich. Engel oder Dämonen?

Die Glocken der Ludwigskirche läuten jetzt um 16 Uhr stürmisch. Die Stunde der Bescherungen. Ich beschleunige meinen Gang. Ein leerer Linienbus rollt langsam die Leopoldstraße Richtung Stadtausgang.

In der Bar des "Vier-Jahreszeiten"-Hotels gebe ich eine blaue Margarita ohne Salzrand in Auftrag. Der junge Kellner besorgt sich telefonisch die Ingredienzenliste und nach endlosen Minuten liefert er ein türkisfunkelndes Glas ab.

Am Nachbartisch spricht eine ältere Frau mit nasaler Schärfe, Marke Elisabeth Flickenschildt, mit ihrer etwas ermattet wirkenden Tochter: "Und noch etwas, Jasmin", sagt sie, "ich ertrage seine Gegenwart einfach nicht mehr." "Wem sagst du das, meine Süße", erwidert die Tochter und pudert sich geübt die Wangen. Im lautlosen Fernsehgerät zeigt ein uniformierter Bundeswehrsoldat die Speisefolge der deutschen Soldaten in den Kasernen bei Kabul.

"Bei Ihnen alles in Ordnung?" erkundigt sich der Kellner. "Gerne", antworte ich. 18 Uhr. Tagesschau.

Im Hofbräuhaus spielt heute keine Kapelle. Ich bestaune Unmengen ausgelassener Asiaten, die rote Wollkapuzen tragen und grauglänzende Kinnbärte. Es fliegen warme Schweinsteile und aufrecht stehende Würste an mir vorbei, dazu dunkles Bier in Dutzendrunden, dann bemerke ich feindselige Blicke aus einer Runde heimisch-platzadriger Bierbacken. Ich gehe einen Schritt auf die Herrschaften zu. Eine Schnupftabakdose kullert zu Boden.

"We won't get fooled again", dröhnt es schräg gegenüber im "Hard Rock Café". Ich sitze mit meinem Martini neben der hängenden Gitarre von Martin Barre, früher Jethro Tull, und schaue über das globale Burgerglück hinweg, wo viele blonde Mädchen schwatzen mit streng gebundenem Pferdeschwanz während ihre beliebigen Begleiter mit Beliebigkeit auf die überall herumstehenden Monitore gaffen - so wie in der Zentrale des Nasa-Bodenpersonals, Houston.

Klar, man kann zum Mond fliegen oder nach Houston oder Jerusalem oder sich eine Rohypnol einpfeifen oder jemanden erschießen, wenn man alleine ist an so einem Tag. Das soll jeder so halten, wie er mag. Ich fühle mich geborgen.

"Wissen Sie eigentlich überhaupt", fragt mich der Mann an der Bar des Dorint-Hotels in Bahnhofsnähe, "dass Zidane regelmäßig zur Blutwäsche in die Schweiz geht?" Er führt sein Weizenbier an den Mund. "Und als der Zidane vor etwa neun, zehn Jahren wieder einmal zur Blutwäsche war, hat ein Mitspieler von Juventus Turin daheim seine Mieze flachgelegt. Deswegen auch der Kopfstoß im Finale. Das weiß doch sonst keine Sau."

Dann beginnt er über seine geschiedene Frau zu sprechen. Wenig später halte ich seine Visitenkarte in der Hand. Ein Sportjournalist. Im heute-journal spricht Familienministerin von der Leyen über das erhöhte Kindergeld, als ob man so einen neuen Messias aus der Reserve locken könnte.

Schillerstraße. 19.30 Uhr. Candy-Bar oder so ähnlich. "Married?", fragt Ilona, eine Strip-Tänzerin aus Moldawien. Sie streichelt mir durch die Haare, legt ihre kerzengeraden Beine über meine Knie, zieht ihren lackledrigen Rocksaum zurecht und lässt kohlenbraune Augen aufblitzen. Ich verschleudere einige Komplimente, worauf sie etwas schmilzt, ich bestelle noch zwei Piccolo.

Auf der anderen Straßenseite leuchtet das limettengrüne Neon eines Pensionsschilds. Bedauernd deutet sie auf den Fleischberg im Tigermuster hinter der Theke, offenbar die Chefin. Draußen steht eine Politesse in plumper Haltung vor einem Auto, tippt dessen Kennzeichen in einen ambulanten Computer und heftet eine Notiz unter die Scheibenwischer.

Ein Mann an der Bar redet laut vom "Blasen", ich bitte ihn, das leiser zu tun, wenn es denn überhaupt sein muss. Buch Mose 25, 4: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden. Worauf Paulus in den Korintherbriefen hinzufügt: Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen? Aber das ist eben wieder mal eine andere Geschichte.

Ilona lackiert sich jetzt die Nägel. Die Chefin lächelt. "Was lachst du jetzt so blöde?" kräht der tumbe Gast. Ich bezahle seine Zeche und bringe ihn zur Tür. Aus dem Nebel hört man Drohungen, die erst abklingen, als die Politesse auf ihn aufmerksam wird.

"Ich suche eine Wohnung", meint Ilona. In der Ecke erwacht ein vielleicht zehnjähriges Kind, das ich bis jetzt für ein Kissen gehalten hatte. Es gähnt und zündet sich eine Zigarette an. Inzwischen läuft indische Musik, weil die Chefin derzeit einen Yogakurs belegt, allerdings, wie sie sagt "bei einem ganz einem mittelmäßigen Afghanen". Ich denke an unsere Soldaten in Afghanistan und ihre Menüfolge an diesem Heiligen Abend.

Nina aus dem türkischen Teil von Zypern gesellt sich zu uns. Noch drei Piccolo. Dann entspinnt sich ein nur teilweise erotisierendes Gespräch um Männer, Frauen, das Geld, die Kathedrale von Bellapais, ob ich noch eine Runde ausgeben könnte, kann ich, und die bevorstehende Messe in der Sendlinger Kirche, Grundstückspreise in Nikosia und woher das Wort Lagune kommt. "Weißt du, Wolf, ich liebe nur mich", sagt Ilona am Ende, "ich liebe letztlich nur noch mich, ja, ich liebe mich. Doch."

Hinter einer Litfaßsäule frieren zwei kosovarische Heroinhändler. Die Sucht kennt keinen Heiligen Abend, und wer an den Mohn gefesselt ist, kennt den Stadtplan. "Unwirkliche Stadt. Unter dem grauen Nebel eines Wintermorgens erscheint Mr. Eugenidis, Kaufmann aus Smyrna, noch unrasiert, die Taschen voll Korinthen . . . " Das ist von Eliot, "Waste Land", für den, der es wissen will.

Ein Orientale, ein schöner Mann mit Bart, vielleicht 47 Frühlinge im Herzen, stellt in den Bahnhofsarkaden ein hölzernes Gestänge auf und ein Schild, das ihn als Porträtmaler ausweist. Außer der Politesse, die gegenüber dem Trunkenbold auf den Zahn fühlt und den schemenhaften Freizeitapothekern ist gegen 22 Uhr keine Seele hier auf der Straße und gerade die wollen ja nur ungern porträtiert werden.

Mir fehlt auch die rechte Lust. "Macht nichts", meint der Straßenkünstler, er sei ohnehin Patenterfinder, im Maschinenbausektor, er habe Innovationen im Köcher, womit er ganze Armeen, auch die Kurden in Vorteil bringen könne, er sei dicht vor einem großen Coup, er sage nur "Panzer" - und: "Vielleicht können wir sogar zusammenarbeiten."

Aus einem hinter mir haltenden Taxi entweicht ein Schwall spirituellen Kirchenliedguts, zwei mit bunten Haaren und klirrenden Metallhosen steigen aus und umarmen sich wie Liebende am Pont Neuf. Bei mir beginnt der Fusel allmählich zu wirken, und Lukas 33 schießt mir durch den Kopf: "Wer sein Leben zu erhalten versucht, wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen."

An einem riesigen Tannenbaum nahe der Ottostraße flackert eine Lichterkette. Im Loungebarsektor des "Lenbach", für die Happy Few dahingestylt von Jasper Conran, stoße ich auf ein paar Bekannte, Anwälte, Makler und Galeristen in Begleitung etwas gekränkt dreinschauender Ehefrauen, wie Staffagen einer unverkäuflichen Edward-Hopper-Studie. Die Kellnerin drückt mir eine kleine Packung mit Gummibärchen in die Hand. "Für dich", sagt sie nachdrücklich.

Im "Ungewitter" einer rundum von Polaroidfotos bestückten Insiderschänke werde ich fast in eine Prügelei mit einem tirolischen Fahrschullehrer verwickelt, der mich mit jemandem verwechselt, der sich vor kurzem in seine Ehe einmischte. Im Hintergrund läuft "Midnight Rambler", Stimmengewirr, Rauch, gefallene Engel, frohlockend, als ob bereits Silvester wäre.

"Sag mal, leben deine Eltern noch?" Ich erkenne eine alte Bekannte aus Berliner Unitagen. Wenig später schlendern wir Richtung "Kalypso", Nebel am Elisabethmarkt, wie sonst nur dort, wo die Brenz in die Donau läuft, etwas Fisch und ein Haufen netter Leute, die ohne erkennbares System durcheinanderreden. Mitternacht.

Endlich ist das Mysterium überwunden, die meisten Menschen haben den Gabentischen, den zu Alten und zu Jungen den Rücken gekehrt und werfen sich jetzt schwerstens erleichtert in die Zukunft. Ich habe plötzlich das Gefühl, einen viel zu langen Mittagsschlaf hinter mir zu haben. Frischluft.

Ich lasse Sylvia bei dem kretischen Baggerverleiher sitzen und finde mich wenig später in der "Schwabinger 7" wieder, einem unzerstörbaren Schuppen, in dem damals schon Andreas Baader günstige Schnäpse trank. Hier drinnen holt mich immer das Gefühl ein, nächste Woche zum mündlichen Abitur vorgeladen zu werden.

Im "Papadakis" treffe ich Antonio, einen Griechen, der aussieht wie ein Belgier und eine gemeinsame Reise nach Baden-Baden in Aussicht stellt, zum Frühjahrsmeeting, Galopprennen. "Kohle ohne Ende", sagt er mehrmals. Viele junge Mädchen tanzen auf Tischen, ein Farbiger balanciert eine Flasche auf dem Kopf, hammerharter Boulevardbouzouki dröhnt, Hysterie, Gekreische, das Übliche.

Fünf Uhr. Fette, tintenschwarze Krähen gesellen sich zu dem Wanderer, alles ist in großem Grau, der Eisbach rauscht wie Korsikas Wasserfälle. Das Haus der Kunst steckt im Rasen des Englischen Gartens wie ein gestrandetes Containerschiff.

Ein Rätsel, wieso mich der Türsteher des P 1 so kumpelhaft durchwinkt. Überall liegt Kunstschnee von Käfer, Hunderte Menschen auf der Tanzfläche, einige von ihnen jung, andere auch hübsch, im Glück gefüllter Gabentische, außer Rand und Band, mit frischem Geld ausgestattet, gierige Blicke auswerfend wie Verfolgte der hausgemachten Selbstsucht, ja, ein riesiger Wind treibt diese Wesen über die Fluren, Gänge und Ebenen. Die inzwischen eingetroffene Bedienung vom Lenbach fragt mich, ob ich jemanden gesehen hätte, an dessen Namen sie sich aber gerade nicht erinnern kann.

Mir fällt spontan Eliot ein - und ich antworte ihr mit schwerer Zunge: "Du gar nichts? Siehst du gar nichts? Erinnerst du dich an nichts? Bist du lebendig oder nicht?" Mit einem Kopfschütteln wendet sie sich ab.

Es ist vollbracht. Und gleich wird es drüben im Dollmann-Splendid-Hotel wieder Mokka geben.

Wolf Reiser ist Schriftsteller und Journalist. Er lebt in München.

© SZ vom 01.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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