Festival:Musik und Völkermord

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Beschäftigt sich multimedial mit dem Schicksal der Armenier: Tonspuren-Gast Marc Sinan. (Foto: Veranstalter)

Das diesjährige Tonspuren-Festival hat das Thema Armenien zum Motto

Von Oliver Hochkeppel, Irsee

Es gibt heute wohl nicht mehr allzu viele, die dem von Bruno Weil zwischen 1993 bis 2011 veranstalteten "Klang und Raum"-Festival vehement nachtrauern. Einmal, weil das Festival schon in seinen letzten Jahren mit seiner Ausrichtung auf Klassik in historischer Aufführungspraxis vom Trend und vielen ähnlichen Veranstaltungen überflügelt worden und obendrein mit Weils jährlich aus Kanada eingeflogenen Tafelmusik Orchestra viel zu teuer geworden war. Vor allem aber, weil sein Nachfolger, das Tonspuren-Festival, richtig eingeschlagen und sich in gerade mal drei Jahren als eines der interessantesten Festivals weit über den schwäbischen Raum hinaus etabliert hat.

Verantwortlich dafür ist in erster Linie die in Bamberg, München und Chicago ausgebildete und promovierte Amerikanistin, Musikwissenschaftlerin, Saxofonistin und Kulturmanagerin Martina Taubenberger. Sie hat für die alten Gemäuern ein geradezu revolutionäres Konzept ersonnen: Jede Tonspuren-Ausgabe bekommt einen wechselnden prominenten Musiker als künstlerischen Leiter und "artist in residence". Er darf sich ein Wunschensemble - möglichst auch mit Kollegen, bei denen dieser Wunsch bislang noch nicht in Erfüllung gegangen ist - zusammenstellen, muss zugleich aber auch mit heimischen Orchestern und Ensembles arbeiten. Seine Arbeit umfasst Auftragskompositionen, die neue und ungewohnte Konzertformate ausprobieren und sich insbesondere mit dem Ort des Geschehens, also dem Kloster Irsee, auseinandersetzen sollen. Dazu wird das gesamte Gebäude zum Spielort und neben Konzerten auch mit Installationen, Inszenierungen und Workshops durchzogen.

Zum Auftakt 2013 durfte der Schweizer Klarinettist Claudio Puntin in die Rolle des kreativen Masterminds schlüpfen, im vergangenen Jahr dann der Münchner Bassist Henning Sieverts - der das mit überragendem Erfolg tat: Seine mit einer echten All-Star-Jazzband und den Streichern der Bayerischen Kammerphilharmonie Augsburg aufgeführte, direkt auf vor 400 Jahren im Kloster entstandener Musik basierende Komposition ist inzwischen in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk als CD erschienen. In Sieverts Fußstapfen tritt bei den vom 10. bis zum 12. Aprildauernden dritten Tonspuren nun der Gitarrist Marc Sinan.

Der 39-Jährige Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters lernt klassische Gitarre unter anderem am Salzburger Mozarteum bei Joaquin Clerch und Eliot Fisk sowie am New England Conservatory in Boston. Als erfolgreicher Solist spielte und tourte er zum Beispiel mit dem Rodin-Quartett, dem Royal Philharmonic Orchestra (mit dem er auch eine Weihnachts-CD aufnahm) oder dem Georgischen Kammerorchester. Doch weil die Gitarre ohnehin ein Außenseiter im Klassikbetrieb ist, wie wegen seiner familiären Wurzeln, reichte Sinans Blickschnell über die Klassik-Tellerrand hinaus, spätestens seit seiner Tour "From Istanbul to Buenos Aires" mit Partnern wie dem türkischen Perkussionisten Burhan Öçal, der Pianistin Julia Hülsmann oder dem Arrangeur Marc Schmolling (bei einem Wes-Montgomery-Projekt).

Für die Eröffnung der Tonspuren 2015 hat Sinan nun das Musiktheater "Comitas" geschrieben, eine Collage aus Originaltexten, Videoprojektionen, dokumentarischen Elementen und zeitgenössischer Musik. Im Mittelpunkt steht die historische Figur des christlich-armenischen Mönchs Komitas Vardapet, der vor genau 100 Jahren im Zuge des Völkermords an den Armeniern aus Istanbul deportiert wurde. Neben Musikern wie Ayumi Paul (Geige), Sascha Friedl (Flöte) oder Johannes Lauer (Posaune) ist auch Sesede Terizyan dabei, Ensemble-Mitglied des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, wohin die Produktion danach weiterreist. Vertieft wird die Vorstellung tags darauf am Samstag durch ein Gespräch von Sinan mit der Gorki-Dramaturgen Holger Kuhla. Auch die "Kinderspuren" und die Abschlussveranstaltung "Spurensuche - Erinnerung im hier und Jetzt" nehmen das Thema Flucht, Vertreibung und Genozid wieder auf.

Sinan bezieht bewusst das Jubiläum des Völkermords an den Armeniern in seine Tonspuren-Arbeit ein, nicht nur wegen seiner Herkunft, sondern auch wegen der Geschichte des Klosters Irsee, das während des Dritten Reiches Teil des Pflegeheims Kaufbeuren war: Mindestens 2000 Patienten fielen hier den "Euthanasie"-Programmen der Nationalsozialisten zum Opfer. Zu diesem Thema ist den Tonspuren bereits am 9. April eine Tagung vorgeschaltet.

Tonspuren, Freitag bis Sonntag, 10. bis 12. April, Kloster Irsee, www.tonspuren.de

© SZ vom 09.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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