Familie zu Unrecht beschuldigt:Falscher Verdacht mit schlimmen Folgen

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Es gibt nicht nur nachlässige Jugendämter, sondern auch übereifrige: Ein dramatischer Fall hat sich in München ereignet: Behörden haben einer unbescholtenen Familie die kleine Tochter zu Unrecht entzogen.

Ekkehard Müller-Jentsch

Kevin, Jessica, Lea-Sophie. Diese Namen der von ihren Eltern zu Tode geschundenen Kinder lösen immer wieder Diskussionen aus, wie Gesellschaft und Behörden in solchen Fällen derartig versagen konnten. In München wird ein Fall verhandelt, der das Gegenteil zeigt: Überreaktionen von Ärzten und Jugendamt haben eine intakte Familie schwer belastet.

Auf Betreiben der Ärzte des Haunerschen Kinderspitals wurden den Eltern ihre kleine Tochter entzogen. (Foto: Foto: Rumpf)

Angesichts von Kindesmisshandlungen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich eine "Kultur des Hinsehens" gefordert. Dass gutgemeinte Aktivitäten aber auch das Gegenteil bewirken können, muss die Haunersche Kinderklinik erleben: Sie ist mit einer Schmerzensgeldklage konfrontiert, weil das Klinikpersonal offensichtlich über das Ziel hinausgeschossen ist. Dass ein Urteil in diesem Prozess, wie immer es ausfallen mag, womöglich eine fatale Signalwirkung haben könnte, ist allen Beteiligten bewusst.

Ein viereinhalb Jahre altes Mädchen war mit dick geschwollenem blauem Auge und einer leichten Gehirnerschütterung im Februar 2006 von seinen Eltern ins Klinikum Dritter Orden gebracht worden. Die Kleine sei beim Spielen gegen eine offene Tür gestürzt, wurde den Ärzten mitgeteilt. Das Kind wurde behandelt und wieder heimgeschickt. Die Mutter brachte ihre Tochter dann in den Kindergarten. Dort sah eine zufällig anwesende Sozialarbeiterin des Jugendamtes das lädierte Mädchen: Sie veranlasste umgehend, dass die Kleine zur stationären Beobachtung in die Haunersche Kinderklinik gebracht wurde.

In dieser Uni-Klinik war kurz zuvor eine Kinderschutzgruppe eingerichtet worden. In diesem Rahmen trat eine "Helferkonferenz" zusammen: Ärzte, Sozialpädagogen, Psychologen. Auf ihr Betreiben wurde den Eltern kurzfristig das Sorgerecht entzogen und das Kind in ein Heim gebracht. Hintergrund war sicherlich auch die Tatsache, dass diese Kleine rund fünf Monate zuvor aus einem Fenster im ersten Stock der elterlichen Wohnung gefallen war - zum Glück ohne bleibende Schäden zu erleiden.

Für die von der Wegnahme ihres Kindes völlig überraschten Eltern, ein wirtschaftlich wohlsituiertes türkisches Ehepaar mit insgesamt drei Kindern, brach eine Welt zusammen. Das Familiengefüge kam, gelinde gesagt, zeitweilig völlig durcheinander. Etwa einen Monat später stellte ein rechtsmedizinisches Gutachten klar, dass die Unfallschilderung, die Kleine sei beim Spielen gegen eine offene Tür gestürzt, offensichtlich zutreffe. Es gebe keinerlei Hinweise auf eine Misshandlung des Mädchens.

Die Strafermittlungen wurden eingestellt und das Kind der Familie zurückgegeben. Die immer noch verstörten Eltern reichten in ihrem Namen und dem ihrer Kinder beim Landgericht München I eine Schmerzensgeldklage über 20.000 Euro gegen die Uni-Klinik ein.

Die Richter der 9. Zivilkammer ließen den gesamten Vorgang durch einen Experten begutachten. Und auch der kam zu der Feststellung, dass trotz des zweifellos gerechtfertigten Anliegens der Kinderschutzgruppe das Klinik-Team zu viele Fehler gemacht habe, die dann zu dem fatalen Ergebnis führten.

Das Gericht und alle Beteiligten stünden nun vor einem Dilemma, stellte am Mittwoch der Vorsitzende Richter Thomas Steiner fest: "Wir lesen täglich in der Zeitung, dass Eltern ihre Kinder schlecht behandeln." Bürgern und Beamten werde dann vorgeworfen, zu oft wegzuschauen, "weil es nämlich zu Prozessen wie diesem hier kommen kann". Steiner zog den Vergleich mit einem Impfschaden: "Impfen ist grundsätzlich gut, aber in Einzelfällen kann es zu Schäden kommen."

Das Gericht zweifle auch hier nicht an den guten Absichten, aber nach dem Stand des Verfahrens müsste die Kammer die Klinik verurteilen. Andernfalls könnten Eltern Hemmungen haben, mit ihren Kindern zum Arzt zu gehen, aus Angst, dass ihnen die Kleinen weggenommen werden. "Jedes Urteil könnte also eine fatale Signalwirkung haben", sagte der Vorsitzende. "Deshalb schlagen wir eine gütliche Einigung vor."

"Nachher ist man klüger"

Der Anwalt die Klinik gab noch zu bedenken: "Was wäre gewesen, wenn sich der Verdacht bestätigt hätte? Das Team hat sich seine Aufgabe gewiss nicht leicht gemacht. Nachher ist man immer klüger." Auch Eltern-Anwalt Uwe Patrunky sieht die grundsätzliche Problematik. Seine Mandaten seien daher mit einer gütlichen Einigung einverstanden. Damit "alle ihr Gesicht wahren können" schlug er vor: Die Klinik solle 15.000 Euro an die Eltern und 5000 Euro an ein Kinderhilfswerk bezahlen.

Nun haben alle Seiten zwei Wochen Zeit, über den Vorschlag nachzudenken. (Az.:9O20622/06).

© SZ vom 31.01.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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