Notzingermoos:Besucher aus der Vergangenheit

Lesezeit: 3 min

Der verschollene Kilometerstein strahlt wieder. Auch dank der Arbeit eines Arbeitskreises, in dem sich Helmut Holzmann (li.) und Johann Reiss engagierten. (Foto: Renate Schmidt)

In der Ortschaft Notzingermoos ist nach Jahrzehnten ein steinerner Zeitzeuge wieder aufgetaucht: Ein Kilometerstein, der die Entfernung nach Erding anzeigt. Zu seinen Ehren haben die Bürger ein Fest und einen Vortrag organisiert

Von Regina Bluhme, Notzingermoos

Es war 1974, da war er plötzlich weg. Einfach verschwunden, unauffindbar über Jahrzehnte. Bis er vor zwei Jahren reichlich ramponiert, aber nahezu unversehrt in einer Kiesgrube ganz in der Nähe wieder zum Vorschein kam: Ein Kilometerstein, der die Entfernung nach Erding anzeigt. Jetzt feierte die Ortschaft Notzingermoos die Heimkehr ihres Steins mit einem Vortrag der Münchner Wissenschaftlerin Dorothea Hutterer und einem Empfang mit gut 80 Gästen im Schützenheim. Alle freuten sich über das Wiedersehen mit dem steinernen Zeitzeugen, nur bei der Festlegung des Alters ging die Meinung ein wenig auseinander.

Eine bunte Mischung machte sich am Freitagabend vom Schützenheim über die Straße zur Bushaltebucht auf. Ältere Herrschaften in Tracht, Teenager in Hotpants, Familien mit Kindern, Burschen in Lederhosen, der erste und der zweite Bürgermeister. Ihr Weg führte zu einem unscheinbaren, grauen Granitstein, auf dem zu lesen ist: "10 Km nach Erding". Fast liebevoll legte Helmut Holzmann eine Hand auf den Stein: "Er stand immer vor unserer Hofeinfahrt und ich weiß noch, wie ich darauf herum geklettert bin ", erzählt er. Dann sei er eines Tages von der Schule gekommen "und der Stein war weg". 1974 war das, beim Neubau der Straße.

"Damals hat man halt vieles weggeschmissen", so Holzmann. Offensichtlich landete der Stein in einer Kiesgrube bei Notzing, denn dort kam er vor zwei Jahren bei Arbeiten auf einer Baggerschaufel zum Vorschein. Mit Ehefrau Martina und dem Ehepaar Johann und Renate Reiss gründete Holzmann sogar die Arbeitsgruppe "Kilometerstein Notzingermoos". Das Kleindenkmal wurde instandgesetzt und nach längerer Suche fand sich unweit des ursprünglichen Standorts bei der Busbucht ein passender Platz - mit gepflasterter Umrandung und einer Sitzbank nebenan.

Zuvor hatte Dorothea Hutterer im Schützenheim über ihre Forschungsergebnisse berichtet. Die junge Wissenschaftlerin studiert Historische Geografie an der Ludwig-Maximilians-Universität und hat sich auf Grenzsteine spezialisiert. "Der Kilometerstein war jetzt Neuland für mich", gab sie zu. Insgesamt gibt es laut Hutterer in der Gegend noch sechs erhaltene Kilometersteine. Grundsätzlich könne man den Steinen auch heute vertrauenswürdige Entfernungsangaben entnehmen, sofern sie an ihrem ursprünglichen Standort stünden. In Fall Notzingermoos zeige der Routenplaner bis zum Schrannenplatz in Erding genau zehn Kilometer an.

Mit der Datierung ist es weniger einfach. Wie Hutterer ausführte, sind 1872 in Deutschland Meter eingeführt worden. Allerdings habe man in Bayern bereits ab 1801 neben dem bayerischen Schuh auch das französische metrische Maß verwendet, sag sie. Offiziell belegt ist der Granitstein erstmals in einem Katasterblatt aus dem Jahr 1912. Dorothea Hutterer vermutet, dass der Stein von Notzingermoos zwischen 1875 und 1900 aufgestellt worden ist. Der Oberdinger Gemeindearchivar Georg Gruber wiederum schätzte "eher nach 1890, nach dem Bau der Isarbrücke". Helmut Holzmann ging auf Nummer sicher und tippte auf 1912. "Egal, wie alt, der Stein ist ein wichtiger Zeitzeuge", sagte Dorothea Hutterer. "Er ist es wert, dass wir ihn feiern." Der Stein erinnere an eine Zeit, "als es normal war, dass die Leute zu Fuß von A nach B gingen", so Hutterer. Die Menschen hätten damals ein anderes Verhältnis zu Längenangaben gehabt: "Wenn an dem Stein ein Fußgänger vorbei gekommen ist und ,10 Kilometer nach Erding' gelesen hat, dann hat er gewusst: In zwei Stunden hab ich's geschafft."

Oberdings zweiter Bürgermeister Anton Nussrainer erinnerte bei der Feier an das Projekt "Heimat erkennen - Identität bewahren", das von 2011 bis 2014 unter der Leitung der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf lief. Mehrere Flyer riefen damals die Bürger dazu auf, auf Spurensuche zu gehen und historische Gegenstände zu melden und digitalisieren zu lassen. Auf einem der Flyer ist Thomas Scherer zu sehen. Das Foto stammt wohl aus den Fünfziger Jahren und zeigt den Landwirt während einer Brotzeitpause, wie er mit baumelnden Beinen auf dem Kilometerstein sitzt. Anton Nußrainer betonte, dass auch weiterhin Objekte in das Internetportal "KLEKs" aufgenommen werden können. "Lasst eure alten Sachen nicht einfach im Keller oder Speicher herumstehen, lasst sie ins Internet stellen."

Chris Loos, Projektmanagerin von "Heimat erkennen", war ebenfalls zu Gast und sie war restlos begeistert. "Ich kriege eine Gänsehaut", sagte sie. "Das was hier passiert, ist genau das, was wir uns gewünscht haben: Den Wert eines Objekts erkennen, ein Fest draus machen und dann noch einen Fachvortrag organisieren, der den Dingen auf den Grund geht. Also, das ist einfach toll", schwärmte sie. Auch der acht-jährige Leon kam am Freitag auf seine Kosten. Er konnte es nach dem Vortrag kaum erwarten, auf dem Kilometerstein von Notzingermoos zu klettern. Strahlend ließ er auf dem Stein die Beine baumeln. So wie einst sein Ur-Ur-Großvater Thomas Scherer.

© SZ vom 31.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: