Mitten in der Region:Mit Fremden spricht man nicht

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Bei einer Gruppe von Erst- und Zweitklässlern kann man als Reporter auf Granit beißen

Von Benjamin Emonts

Da heißt es immer, dass Kinder vieles rasch wieder vergessen, was sie in der Schule gehört haben. Von wegen. Der Autor dieses Textes machte kürzlich eine ganz andere, einprägsame Erfahrung. Unweit eines Straßenüberwegs, an dem ein Schulweghelfer interviewt werden sollte, kreuzte eine Horde Erst- und Zweitklässler den Weg. Von dem zuvorkommenden Schulweghelfer wurden sie gerade über die Straße geführt, was sie ebenfalls zu interessanten Gesprächspartnern für die Reportage machte. Vorsichtig näherte sich der Reporter also den Kindern und fragte, ob er ein paar kurze Fragen stellen dürfe. Ein achtjähriges Mädchen setzte so höflich wie selbstbewusst zu einer Antwort an. Bevor sie allerdings nur einen Satz in den Block des Reporters diktieren konnte, schwallte es dem Erwachsenen aus den Kinderkehlen nur so entgegen: "Neeeeeeeeeeeein! Wir dürfen nicht mit Fremden reden! Das haben wir gerade erst in der Schule gelernt!" Was will man da noch sagen? Der Reporter fühlte sich ziemlich vor den Kopf gestoßen. Er wurde plötzlich zum Kind, klein, unsicher und verlegen. Die Schüler hingegen wurden mannsgroß. Mit vorwurfsvollem, triumphalen Blick zogen sie von dannen. "Dem haben wir's gezeigt", werden sie sich gedacht haben. "Was fällt diesem Fremden auch ein - uns einfach auf der Straße anzuquatschen!"

Und für den Reporter sollte es noch dicker kommen. Am nächsten Morgen, zurück im Büro, lag ein Zettel auf seinem Schreibtisch, darauf ein Name, eine Telefonnummer und der Vermerk: "Rückruf!" Mit einer bösen Vorahnung griff er also zum Hörer. Am anderen Ende der Leitung nahm eine freundliche Frau ab. Natürlich war es die Mutter des Mädchens, das dem Reporter zunächst antworten wollte, von ihren Mitschülern aber jäh unterbrochen wurde. Ihre Tochter, so erzählt die Frau, habe sich den ganzen Nachmittag Gedanken gemacht, weil sie - unerlaubterweise - einem Fremden geantwortet hatte, obwohl sie in der Schule doch etwas ganz anderes gelernt habe. Auf dem Heimweg habe sie sich noch einige ermahnende Kommentare ihrer Mitschüler anhören müssen, schildert die Mutter. Der Reporter hat jetzt seine Lektion gelernt - ganz so, wie damals in der Schule.

© SZ vom 23.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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