Ein vergessenes Kapitel der Lokalgeschichte:"Man sollte es aufarbeiten"

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Tausende Menschen schufteten im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter auf den Bauernhöfen im Landkreis. Heute erinnert kaum mehr etwas an sie. Der Historiker Giulio Salvati, der selbst weiß, wie es sich anfühlt, in Erding fremd zu sein, kritisiert die Lücke in der öffentlichen Erinnerung

Von Thomas Jordan, Erding

"Ich habe mir einfach die Namen angeschaut." Giulio Salvati fährt mit dem Finger über die Metallbuchstaben am Kriegerdenkmal am Grünen Markt. Bei den Namen "Baptschuck, Paul" und "Kegge, Gerrit" hält er inne. "Bombenopfer" steht über der Tafel. Sie soll an die Toten der Bombardierung Erdings durch die Alliierten kurz vor Kriegsende im April 1945 erinnern. Er habe sich gefragt, fährt der 29-jährige fort, wer denn eigentlich der Urheber der Gewalt sei, der diese beiden Toten zum Opfer gefallen sind: "Sind sie Opfer der Alliierten oder der Deutschen?" fragt der Historiker Salvati.

Er ist in Erding aufgewachsen, im Moment schreibt er an der New York University seine Doktorarbeit. Für seine Erkenntnisse zur Zwangsarbeit hat er vom Historischen Verein Erding den Forscherpreis 2016 erhalten. Am Montag um 19.30 Uhr präsentiert er in der Gaststätte Weißbräu Erding seine Ergebnisse unter dem Titel "Das friedliche/kriegerische Nebeneinander - Die Stadt Erding und ihre Zwangsarbeiter".

Bis zu 2000 Zwangsarbeiter schätzt Salvati, waren von 1940 bis 1945 im Landkreis Erding beschäftigt. Menschen wie der Ukrainer Paul Baptschuck, die gegen ihren Willen und unter Androhung von Strafe zum Arbeiten nach Erding kamen und oft auch hier starben. Salvati zählt dazu auch jene, die zwar freiwillig kamen, aber nicht mehr weggehen konnten. Etwa weil ihnen der Pass entzogen wurde, so wie dem Holländer Gerrit Kegge. Menschen, die im Erdinger Weißbräu an abgetrennten Tischen ihr Bier tranken. Deren Polnisch, Französisch oder Ukrainisch auf den Straßen und Plätzen zu hören war und die Erding in den Jahren 1940 bis 1945 zu einem "internationalen" Ort machten, wie Salvati sagt.

Auch Kinder wie Petro Burkywycz waren unter den vielen hundert Zwangsarbeitern, die ab 1940 aus Polen nach Erding gebracht wurden. (Foto: Staatsarchiv München/OH)

Heute tauchen ihre Namen nur noch in den Totenbüchern von Pfarreien auf, oder man stößt zufällig auf sie, wie am Grünen Markt. Beiläufige Spuren sind das, die es aussehen lassen, "als ob die Zwangsarbeiter Teil der Gemeinschaft" gewesen wären, sagt Salvati. Als ob sich ihre Geschichte nicht unterschieden hätte von der von "Busch, Heinrich" oder "Dachs, Katharina", deren Namen neben ihnen in metallenen Lettern auf der Tafel der Bombenopfer stehen. Tatsächlich waren Menschen wie Paul Baptschuck billige und rechtlose Arbeitskräfte, die meisten auf Bauernhöfen. Die ein "P" für "Pole" oder ein "R" für "Russe" auf ihrer Kleidung tragen mussten. "Freiwild" wie Salvati sie nennt, für die ein Konflikt mit dem Arbeitgeber tödlich enden konnte. So wie bei dem 17-jährigen Polen Boleslaw Bucskowski, der dem Bauern Anton Döllel aus Oberndorf in der Gemeinde Buch, bei dem er arbeitete, im Streit eine Flasche auf den Kopf schlug. Der junge Mann, der zunächst geflohen war, wurde dafür von einem Sondergericht zum Tode verurteilt. Neun Monate später richtete ihn der Scharfrichter im Gefängnis Stadelheim durch das Fallbeil hin. Ein Tod, den der Landwirt laut Salvati hätte verhindern können.

Die Rolle der Bauern ist einer der Akzente, die der junge Historiker setzt. Nach Hans Niedermayer ist er erst der zweite, der sich mit dem Thema Zwangsarbeit in Erding näher wissenschaftlich beschäftigt. Denn der ansonsten so übergriffige NS-Staat verstand die Zwangsarbeiter zwar als "Feinde im Inneren", hielt sich bei Konflikten mit ihnen aber oft heraus. Er ließ den für die Lebensmittelproduktion im Krieg so wichtigen Bauern "freie Hand", sagt der 29-Jährige. Nicht immer zum Nachteil der Zwangsarbeiter. "Es gibt bei den Bauern eine Tradition von patriarchalischer Herrschaft, ein Wissen, wie man ein Haus zu führen hat." Und so gab es auch die Landwirte, die sich schützend vor ihre Zwangsarbeiter stellten, wenn die in Streitereien verwickelt waren. Oder sogar stillschweigend die Strafen an die Obrigkeit bezahlten. Wie der Bauer Sellmair in Ottenhofen, der seinen Arbeiter Demetrius Woycichorsky gegen den Vorwurf der Körperverletzung in Schutz nahm und erreichte, dass er straffrei ausging.

Mal waren die Zwangsarbeiter in Erding geschätzte Gesellen, mal reine Arbeitssklaven - eines konnten sie aber nie: Ihr Schicksal selbst bestimmen.

Mehrere Monate hat sich Giulio Salvati mit der Geschichte der Zwangsarbeit in Erding beschäftigt. Er hat Akten vom Landratsamt und der Stadt eingesehen und im Pfarrarchiv von St. Johannes recherchiert. "Dieser Zusammenhang zwischen Migrationsgeschichte, Gewalterfahrung und Zweitem Weltkrieg fasziniert mich", sagt der 29-Jährige. Er weiß, wie es sich anfühlt, als Fremder nach Erding zu kommen.

Mit elf Jahren kam Giulio Salvati aus Rieti in der Nähe von Rom hierher. Der Vater arbeitete bei Sony in Riem, Wohnen war in Erding noch bezahlbar. Am Anfang war es "ein gewaltiger Schock", erzählt der oft ernst wirkende 29-Jährige. Heimat habe er hier auch als Kampfbegriff erlebt. Und Salvati, der heute Erding ohne Wenn und Aber sein Zuhause nennt, auch wenn er in New York studiert, kann Geschichten erzählen. Über Mitschüler, die den "Spaghettifresser" Giulio mit dem "Alberto-Lied" aus der Pizza-Werbung hänselten, und über Erdinger, die Diskussionen mit ihm mit dem Argument beendeten, dass sie schon seit 25 Jahren in derselben Straße wohnten.

Unter den Bombenopfern am Kriegerdenkmal am Grünen Markt entdeckte der Historiker Giulio Salvati, 29, auch Zwangsarbeiter-Namen. (Foto: Renate Schmidt)

Auch deswegen ist es ihm so wichtig, dass die Geschichte der Zwangsarbeiter ihren Platz in der Erinnerung der Erdinger findet. "Die Präsenz von Ausländern ist Alltag in Erding", und war es auch schon vor 75 Jahren, sagt er. Bis heute klafft hier aber eine Lücke in der lokalen Erinnerungskultur. Ein Denkmal für die vielen hundert Zwangsarbeiter, die mithalfen, dass die Menschen im Landkreis während der Kriegsjahre etwas zu essen hatten, gibt es nicht. "Man sollte es aufarbeiten" sagt Salvati nachdrücklich. Einen Abschnitt über die Geschichte von Menschen wie Paul Baptschuck im Museum Erding, das fände er eine gute Idee.

Museumsdirektor Harald Krause signalisiert dafür Sympathie, bremst allerdings auch die Erwartungen: "Dass das Thema berücksichtigt werden sollte, ist bei uns angekommen." Allerdings sei die aktuelle Dauerausstellung erst im Herbst 2013 fertig geworden, und da könne man nicht ohne weiteres ein Thema hinzufügen.

Vielleicht findet sich ja doch noch ein Weg. Denn Überraschungen, auch das zeigt Giulio Salvati, hält die Beschäftigung mit der Geschichte der Zwangsarbeiter in Erding und Umgebung sicher noch so einige bereit. Das muss sich auch die Bauernfamilie Kern gedacht haben, als 1982 auf einmal Gustav Bouquillon auf ihrem Hof in Moosinning stand. Der ehemalige französische Kriegsgefangene wollte einem Freund zeigen, wo er von 1943 bis 1945 gearbeitet hatte. Die Kerns luden die beiden spontan zum Essen ein.

© SZ vom 13.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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