Einfach nur anders (7): Wiebke und Maike:Körper aus Glas

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Zusammen kommen die Zwillinge Wiebke und Maike Weiss auf mehr als 200 Knochenbrüche, doch zum Arzt gehen die 18-Jährigen meist nicht mehr. Sie haben Glasknochen.

Simone Sälzer

Es knackst schon, wenn sie heftig niesen. Für sie ist es gefährlich, in der Fußgängerzone angerempelt zu werden. Die Zwillinge Wiebke und Maike Weiss hatten zusammen mehr als 200 Brüche. Scheinbar harmlose Situationen sind für sie eine Herausforderung, ja eine große Gefahr: Denn ihre Knochen brechen so leicht wie Glas, auf Röntgenbildern sind sie nur als durchsichtige Röhren erkennbar. Die beiden 18-Jährigen haben Osteogenesis Imperfecta oder Glasknochen, wie es im Alltag heißt.

Wiebke (links) und Maike haben Glasknochen: Bei Brüchen gehen sie gar nicht erst zum Arzt. (Foto: Simone Sälzer)

Ein Bruch ist für sie so selbstverständlich wie für andere eine Erkältung. "Wir gehen gar nicht mehr zum Arzt, legen einfach einen Verband an", sagt Maike, die zurzeit einen Beinbruch hat. "Trotzdem tut es jedes Mal weh."

Wiebke liegt auf dem Teppichboden im Wohnzimmer ihrer Eltern. Sie hat den Kopf auf die Hände gestützt. Neben ihr Hund Gina. Maike sitzt auf der Couch. Ihre Mutter hat sie aus dem Rollstuhl dorthin getragen. Laufen können die beiden Zwillinge nicht, zu schwach sind ihre Knochen.

Die Teenager gleichen sich fast bis aufs Haar. Nur drei Zentimeter unterscheiden sie. Wiebke ist 98 Zentimeter groß, Maike einen Meter und einen Zentimeter. "Auf diesen Zentimeter lege ich großen Wert", sagt sie und lacht. "Ich komme schon noch auf einen Meter", erwidert Wiebke keck. Und noch etwas unterscheidet die aufgeweckten Mädchen mit den langen braunen Haaren: Wiebke hat ihre Fingernägel knallrot lackiert, Maike hingegen trägt sie unlackiert, dafür hat sie ein Nasenpiercing. Wer mit den Zwillinge zusammen ist, vergisst schnell, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leiden.

Schon im Bauch, die Arme gebrochen

Trotz ihrer zerbrechlichen Körper wollen Wiebke und Maike nicht in Watte gepackt werden. "Wir wollen Spaß im Leben haben", sagt Wiebke selbstbewusst. Die jungen Frauen sprechen astreines Norddeutsch, wie ihre Eltern, die vor 23 Jahren in den Süden Deutschlands gezogen sind. "Wenn etwas bricht, dann bricht es eben", sagt Wiebke. "Klar müssen die Menschen, die uns heben, vorsichtig sein. Doch wir sind keinem böse, wenn er uns etwas bricht, das ist unseren Eltern auch schon passiert."

Sie wollen wegen ihrer Behinderung nicht darauf verzichten, mit ihren Freunden den Alltag zu verbringen: Shoppen in der Stadt, den neuesten Film im Kino sehen und bei Konzerten ihrer Lieblingsband zurufen. "Musik ist unsere große Leidenschaft", sagt Maike. Die Liste der Bands, die sie auf der Bühne gesehen haben, ist lang: All American Rejects, Blumentopf, Kate Nash, Simple Plan, Pink oder Wir sind Helden.

Osteogenesis Imperfecta, das "unvollständige Knochenbildung" heißt, ist eigentlich eine Erbkrankheit. Bei Wiebke und Maike war es allerdings eine Spontan-Mutation. Ursache ist eine genetisch bedingte Störung eines Kollagens. Daher ist das gesamte Bindegewebe des Körpers betroffen. Die Knochen sind von Geburt an instabil, werden wie bei den Geschwistern meist mit Teleskop-Nägeln zusätzlich fixiert.

Die Zwillinge haben Typ III, die schwerste lebensfähige Form der Glasknochenkrankheit. Arme, Beine und Wirbelsäule sind stark verformt. Meist sind die Betroffenen kleinwüchsig und auf den Rollstuhl angewiesen. Bei Typ I der Krankheit können die Betroffenen noch laufen, die Knochenverformungen sind gering. Typ II ist so schwer, dass die Kinder während oder kurz nach der Geburt sterben.

Osteogenesis Imperfecta ist eine relativ seltene Krankheit. Deutschlandweit sind etwa 5500 Menschen betroffen, weltweit nur rund 500.000. Im Kindesalter sind die Knochen am brüchigsten, im Erwachsenenalter werden sie stabiler. Dennoch: Auch wenn die Mädchen nicht laufen können, müssen sie etwas für ihren Körper tun. Denn je mehr Muskeln sie aufbauen, desto weniger brechen die Knochen.

"Am Anfang waren wir geschockt", sagt Mutter Linda Weiss. "Die beiden hatten sich schon im Bauch Arme, Beine und Rippen gebrochen." Noch am Tag der Geburt erfahren die Eltern von der Krankheit ihrer Kinder. Sie gehen sehr behutsam mit ihren Mädchen um, geben sie nicht in fremde Hände. "Die beiden waren so lebendig und munter, dass schnell die Freude überwogen hat."

Die Zwillinge gehen aufs Münchner Dante-Gymnasium. Maike macht dieses Jahr Abitur, Wiebke geht in die 10. Klasse. Ein Jahr lernte sie Französisch nach, ein Jahr wiederholte sie wegen zahlreicher Operationen freiwillig. "Wir fühlen uns dort endswohl", sagt Maike. "Wir sind super integriert, bei allen Ausflügen und Aktivitäten dabei." Sie haben lediglich eine Schulbegleitung, ansonsten helfen ihnen ihre Freunde und Lehrer. Wiebke war vor kurzem sogar beim Austausch in Italien.

In der Schule, auf der sie zuvor waren, wurden sie wegen ihrer Erkrankung mit Samthandschuhen angefasst. In den Pausen waren sie in einem extra Raum untergebracht. Die Lehrer fanden den Pausenhof zu gefährlich.

"Bis auf Sport können wir alles machen"

Trotz ihrer Zerbrechlichkeit wirken die beiden Mädchen nach außen, als könne sie nichts erschüttern. Ihre Lebensfreude, ihre Unbeschwertheit und ihr Selbstbewusstsein sind stark. "Bis auf Sport können wir doch alles machen", sind sich die beiden einig. "Warum soll ich mit meinem Schicksal hadern und daran verzweifeln, dass ich nicht im Basketballverein bin", sagt Wiebke voller Überzeugung. "Es gibt doch so viel mehr im Leben." Sie sagt dies so, als sei ihre Krankheit wirklich nicht mehr als ein harmloser Schnupfen. Und die Mädchen gehen noch weiter: Sie sehen in ihrer Behinderung sogar einen Vorteil. "Wir kommen sehr viel schneller ins Gespräch mit anderen, da wir ständig um Hilfe bitten müssen", sagt Maike und lacht. "Und manchmal entwickeln sich daraus Freundschaften."

Die beiden haben keinerlei Berührungsängste, schlechte Erfahrungen haben sie im Alltagsleben nie gemacht. "Alle sind immer hilfsbereit", sagt Maike. Nur eines finden sie etwas schade, sagen sie scherzhaft. Sie müssen immer in der Kinderabteilung einkaufen. Die Zwillinge, die Jeans und Kapuzenpullis mit Homer-Simpson-Motiv sowie einem amerikanischen Schriftzug tragen, verziehen das Gesicht, lachen aber dann gleich wieder. "Das ärgert uns schon, wenn uns etwas Cooles nicht passt", sagt Wiebke.

Wiebke und Maike wollen ihre Behinderung so wenig wie möglich zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. "Wir sind zwar in einer Selbsthilfegruppe, aber die Betroffenen leben nur in ihrer Welt, das nervt uns ein bisschen", sagt Wiebke. Sie wollen nicht nur Freunde, die die gleiche Behinderung haben, sondern auf der gleichen Wellenlänge wie sie schwimmen. Und sie träumen wie andere junge Erwachsene davon, bald ein eigenständiges Leben zu führen. Wiebke will später Journalistin werden. Maike will Jura studieren oder etwas Kreatives machen. "Wir haben ganz konkrete Pläne für die Zukunft", sagt Maike. "Und da wollen wir uns von unserer Behinderung nicht einschränken lassen."

Weitere Informationen: Bayerische Gesellschaft für Osteogenesis Imperfecta, Ansprechpartner: Susanne Wöhrl, Bergstraße 11, 93339 Riedenburg, Tel.: 09442/550, Fax: 09442/906060, Mail: OI-Bayern@oi-gesellschaft.de; www.oi-gesellschaft.de.

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