Casting für einen Platz an Paul McCartneys Pop-Uni:Last Exit Liverpool

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Von Tanja Rest

Als Vivian ihren Text vergisst, ist es, als ob der Herzschlag aussetzt. 22 Jahre alt, schwarze Hose zum Baumwollrolli, mädchenhafter Trotzkopf mit Strubbelfrisur: Vivian aus Pirna bei Dresden, die endlich raus will aus ihrem ¸¸Scheißkaff", dorthin, wo das Leben Purzelbäume schlägt. Die sich schon mal bei ¸¸Die deutsche Stimme 2003" beworben und Jazz gesungen hat und von der Dame vom ZDF gefragt wurde: Können Sie auch Schlager? ¸¸Da stand ich und dachte, soll ich jetzt ,Anita" singen oder was?" Hier aber hat es richtig gut angefangen. Sie hat ¸¸Jezebel" gesungen von Sade, mit einer großen, warmen Sehnsuchtsstimme, der ganze Raum ist voll gewesen von diesem Sehnen, und an seinem Schreibtisch vor der Bühne hat sich Juror Arthur Bernstein Notizen gemacht. Dann hat sie ¸¸Cry me a River" von Arthur Hamilton angefangen, und plötzlich ist der Text - weg. Ein, zwei Wimpernschläge, die Musik läuft weiter, die Welt steht still. ¸¸Sorry", sagt Vivian. ¸¸It"s okay, go on", sagt Bernstein. Sie singt. War was?

Dass Schlimme ist: Sollte es nicht geklappt haben, sollte Vivian Saleh in einem halben Jahr immer noch in Pirna festsitzen, dann wird sie an diesen Moment zurückdenken. Sie wird sich fragen, ob er sie ihren Traum gekostet hat.

Freitagmittag im vierten Stock des Siemens Forums: Casting. Wieder mal. Gesucht werden allerdings nicht zukünftige ¸¸Popstars", ¸¸Superstars" oder ¸¸Fame Academy"-Bewohner, an deren zerplatzten Hoffnungen sich ein paar Millionen Fernsehzuschauer ergötzen können. Gesucht wird die neue Studenten-Generation für LIPA, das Liverpool Institute for Perfoming Arts. Besser bekannt als die Pop-Uni von Sir Paul McCartney.

Der Ex-Beatle hat die Akademie 1996 gegründet und in seinem alten Schulhaus an der Mount Street untergebracht. Jedes Jahr bewerben sich rund 3500 Nachwuchstalente aus ganz Europa um einen der 200 Plätze. LIPA, das bedeutet eine dreijährige Elite-Ausbildung in den Wahlfächern Musik, Tanz, Gesang, Design, Songwriting, Soundtechnik oder Management. Die Studenten lernen unter exklusivsten Bedingungen, mit dem neuesten Studio-Equipment, der modernsten Bühnentechnik, mit Gastdozenten wie Lou Reed, Tracy Chapman, den Bangles, Mel C oder Sir Paul himself. 80 Prozent kommen später in der Entertainment-Branche unter. Karrieren als Solo-Tänzerin im Londoner West End, als Komiker bei der BBC, Musical-Star in Las Vegas. . . - es genügt ein Blick in die Absolventen-Zeitung ¸¸See me now" um zu begreifen: Wer hier aufgenommen wird, hat es so gut wie geschafft.

Aus Deutschland haben sich in diesem Jahr knapp 100 junge Menschen beworben, 40 kamen in die Vorauswahl, acht sind heute hier. Sie hocken vor der Tür zum Konzertraum, Wasserflaschen oder Texthefte umklammert. Das große Warten auf 20 Minuten pro Kopf: Hannes aus Österreich klimpert auf der Gitarre, Henning aus Schwerin wirbelt die Drumsticks herum, gesprochen wird nicht viel. Ab und zu verschwindet einer auf den Balkon und qualmt eine Zigarette.

Es geht um mehr als die berühmten 15 minutes of fame. Anders als die Teenie-Hundertschaften, die in den vergangenen Jahren in deutsche Stadthallen gepilgert sind, um sich vor Figuren wie Bohlen, Oli P. oder Detlef Dee Soost zum Deppen zu machen, haben diese acht richtig was zu verlieren. Weil sie schon viel investiert haben in ihren Traum. Der blasse Henning mit der Prinz-Eisenherz-Frisur zum Beispiel spielt seit sieben Jahren in verschiedenen Bands Schlagzeug und ist jetzt an einem Punkt angekommen, wo er sagt: ¸¸Zuhause kann ich mir leicht was vorlügen. Weil ich da nicht mehr gefordert werde." Sein Kumpel Thomas, 22, hat in Schwerin ein eigenes Studio und nach vier Jahren festgestellt: ¸¸Rauskommen ist ein Muss, wenn ich mit guten Leuten arbeiten will." Die langmähnige Nena, 20, hat ein dickes Album dabei mit selbst verfassten Songtexten, Fotos von Schultheater-Aufführungen, Musical-Auftritten, Familienkonzerten, Streetdance-Stunden. Sie sagt: ¸¸Ich möchte endlich lernen, wie ich aus meinen Texten Songs machen kann." Alle haben schon alles mögliche probiert, Rückschläge weggesteckt, eine große Chance ist noch da. Last Exit Liverpool.

¸¸Wir suchen hier nicht nach fix und fertigen Künstlern", sagt LIPA-Schulleiter Mark Featherstone-Witty, der mit seinem geölten Grauhaar und dem doppelreihigen Blazer mit Goldknöpfen nach allem aussieht, nur nicht nach Pop. ¸¸Uns interessieren Persönlichkeiten, die das gewisse Etwas haben, Charisma, Offenheit, Drive - und natürlich Talent." Ist die madonnengesichtige Nena eine solche Persönlichkeit? Sie hat extra Gesangsunterricht genommen für dieses Casting. Nun steht sie vor LIPA-Recruiter Mark Bernstein und singt ¸¸Fragile" von Sting, sie singt es ganz zart und ein bisschen leise, mit halb geschlossenen Augen, die Arme reglos am Körper. Es sieht aus, als meditiere sie. Danach schaut sie sich zusammen mit dem freundlichen Mister Bernstein ihr Foto-Album an und beantwortet Fragen: Was hast du bisher gemacht? Was willst du von LIPA? Wo siehst du dich in drei Jahren? ¸¸In drei Jahren. . .", sagt Nena. ¸¸Ich weiß nicht, das kommt mir so weit weg vor." Bernstein macht sich eine Notiz.

Und dann kommt Hannes. Hannes mit den schwarzen Rastas und den traurigen Augen, der so nervös gewesen ist, dass er zuvor mit keinem reden mochte. Der immer nur Gitarre gespielt und geraucht hat, stundenlang. Er stöpselt das Verstärkerkabel ein; hinten hängt das T-Shirt aus der Hose. Hannes spielt zwei Lieder, eines von Leonard Cohen und ein eigenes. Er spielt sie mal wild aufheulend, rotzig, heiser, dann wieder mit kosend weicher Stimme, wunderbar. Aber das wirklich Irre ist, dass er ein ganz anderer Mensch wird dabei. Zum ersten Mal an diesem Tag lässt Bernstein an seinem Pult den Stift sinken und sieht verblüfft aus. ¸¸That was. . . great." Ob"s gereicht hat? In sechs Wochen wissen sie es.

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