Buch über das Münchner Umland:Fetischisierung des Scheins

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Im Umland zählt nur eines: der Führerschein. Philipp Mattheis ist in einem kleinen Ort in der Nähe von München aufgewachsen, wo der nächste Supermarkt nur mit einem 30-minütigen Fußmarsch zu erreichen und der Rest der Welt noch ferner ist. Seine Erlebnisse hat der 32-Jährige in dem Buch "In Dingenskirchen" notiert. Ein Auszug.

Der ehemalige jetzt.de-Mitarbeiter Philipp Mattheis, 32, hat ein Buch über seine Jugend in einem Vorort von München geschrieben. In "In Dingenskirchen" (rowohlt, Oktober 2011, 8,99 Euro) geht um Randale an der Bushaltestelle, Saufgelage hinter der Scheune, Reihenhäuser und die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Ein Auszug.

"Der jugendliche Zufußgeher auf dem Land ist stigmatisiert": Philipp Mattheis beschreibt in "In Dingenskirchen" seine Jugend im Münchner Umland. (Foto: oh)

Ob das einzige grüne Ding im Schaufenster noch belebter Natur oder aus Gummi bestand, war von außen nicht erkennbar. Angesichts der Myriaden von Staubkörnern, der nikotingetränkten Gardine und einem mit einer fingerdicken grauen Schicht überzogenen Ferrari-Testarossa-Modells war es schwer vorstellbar, dass diese Pflanze dort auf der Fensterbank tatsächlich noch lebte. Irgendwie sah das nach DDR aus. Als hätte sich jemand vor 20 Jahren einen Ruck gegeben und sich gesagt: Jetzt mache ich ein bombensicheres Geschäft auf. Einen Kleinbetrieb, der weder Innovation noch Werbung noch freundlicher Dienstleister bedarf, denn die Leute sind so oder so auf meinen Laden angewiesen. Ihnen bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als zu mir zu kommen. Und der Mensch hatte Recht: Es führte überhaupt kein Weg an seinem Laden vorbei.

Jeder junge Mensch, der seine um approximativ gefühlte 40 Prozent eingeschränkte Lebensqualität auf ein Normalmaß erhöhen wollte, musste den Raum hinter diesem Schaufenster betreten, ein für seine Verhältnisse beachtliches Vermögen hinterlegen und hoffen, ihn in drei bis sechs Monaten als vollwertiger Mensch wieder verlassen zu können. Außer dem Ferrari und der traurigen, lederartigen Pflanze stand dort nichts. Nur Staub.

Ich öffnete die Glastür und trat auf grauen Linoleumboden. In dem Raum standen etwa 20 Plastikschalensitze mit einer klappbaren Schreibvorrichtung auf der linken Seite. Links an der Wand gegenüber der uringelben Gardine hingen Modelle von Stopp-, Vorfahrts- und Linksabbieger-Schildern. Eine Leuchtröhre an der Decke warf ihr deprimierendes Licht in den Raum. Es sah aus wie ein Klassenzimmer für Erwachsene, das seit langem keine Putzkraft mehr betreten hatte. Am anderen Ende des Raumes stand ein Schreibtisch aus dunkelbraun gefasertem Pressholz.

Dahinter rauchte ein Mann eine Zigarette. Neben ihm stand eine lange nicht mehr gespülte Kaffeetasse, auf der das Land Mexiko gedruckt war. Er murmelte etwas, das nach "Servus" klang. Ich ging näher. Der Mann trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern, hinter denen zwei kleine, trübe, rote Augen lauerten. Unter seiner Nase wuchs ein dichter Schnauzbart, der dieselbe Farbe wie das Holz des Schreibtisches hatte. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit jemandem, nun ja, mit jemandem, der vor 60 Jahren gestorben war. "Was willst?", fragte der Mann und stieß zeitgleich Rauch aus Nase und Mund aus. Er rauchte "Ernte 23". "Ich will den Führerschein machen."

Er öffnete eine Schublade, holte zwei Papiere heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. "Da. Ausfüllen." Er roch nach Alkohol. "Wann würde das denn dann so losgehen?" Der Mann antwortete nicht. "Das mit dem Führerschein, meine ich..." Der Mann mit dem Schnauzbart drückte seine Ernte 23 aus, klopfte eine weitere aus der Schachtel heraus und steckte sie sich in den Mund, ohne sie anzuzünden. "Wenn deine Eltern gezahlt haben." "Ich zahl das selber." "Ist mir wurscht." Er zündete sich die Zigarette an. "Theorie immer Dienstag und Donnerstag 18.30 Uhr bis 20.00 Uhr. Praxis später. Servus."

Ein Mann, ein Auto: Wer im Umland keinen Führerschein besitzt, trägt das unsichtbare Zeichen des Aussätzigen auf der Stirn. (Foto: Catherina Hess)

Ein selbstbestimmtes Leben in Dingenskirchen ohne Führerschein war nicht möglich. Nur die Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeuges machte das Leben in der Provinz zu einem halbwegs menschenwürdigen. Alleine schon die Wege! Zum Postamt! Zu Fuß zum Postamt zu gelangen dauerte 20 Minuten. Zum Supermarkt am anderen Ende des Dorfes brauchte man eine halbe Stunde. Es waren Entfernungen wie in einer amerikanischen Kleinstadt im Bundesstaat Nevada.

Viel schlimmmer aber ist: Der jugendliche Zufußgeher auf dem Land ist stigmatisiert. Im Dorf gehen nur ältere Frauen zu Fuß. Sie treffen andere ältere Frauen auf der Straße, grüßen, tratschen, verabschieden sich, um dann beim Bäcker drei Semmeln zu kaufen. Alle anderen Bewohner fahren mit dem Auto. Die Landwirte mit dem Traktor, die Familienväter mit dem BMW, die Familienmütter mit dem Volvo Kombi, die Jungen mit dem VW Golf. Wer zu Fuß geht, signalisiert damit, kein vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft zu sein. Der Zufußgeher ist unfertig, ihm fehlen die Insignien der Dorfgemeinschaft.

Die Führerscheinprüfung ist der Initiationsritus, das Zeichen, das aus dem Jugendlichen erst einen ganzen Mann (oder Frau) macht. In den Städten der Bundesrepublik mögen Menschen leben, die 25, 30 oder gar 40 Jahre alt sind und nicht zum Führen eines Kraftfahrzeuges berechtigt sind. Auf dem Land aber ist die Führerscheinlosigkeit ein Makel, der nur mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung vergleichbar ist.

In der Stadt wird über Leute gelacht, die mit 35 Jahren noch bei ihrer Mutter leben. Auf dem Land ist das kein Problem. In jedem Dorf gibt es Dutzende erwachsene Männer und Frauen, die in Einliegerwohnungen oder Dachgeschossen im Hause ihrer Eltern leben. Sie sind glücklich und zufrieden, und niemand fragt sie, ob sie nicht vielleicht einmal das elterliche Haus verlassen möchten. Mit 35 neben oder im Haus der Eltern zu leben, ist vollkommen normal. Wer aber als Erwachsener noch keinen Führerschein besitzt, der trägt das unsichtbare Zeichen des Aussätzigen auf der Stirn.

Die Leute denken sich: Mit dem stimmt was nicht, der ist komisch, der spinnt. Warum hat der denn keinen Führerschein? Geht der gerne zu Fuß? Ist der behindert? Will der am Ende gar keinen haben? Ist das einer von diesen Ökospinnern?

Die einzig denkbare und sozial vertretbare Möglichkeit, warum ein erwachsener Landbewohner keinen Führerschein besitzt, ist: Er wurde ihm gezwickt. Weil er zu schnell gefahren ist (menschlich) oder weil er besoffen gefahren ist (noch menschlicher).

Falls nun der Eindruck entstehen sollte, der Erzähler mache sich über die Führerscheinfixierung der Landbewohner lustig, hinter der Fetischisierung des Scheins und aller fahrbaren Untersätze steckten am Ende niedere Triebe wie Sozialprestige, Angeberei oder sogar Phallussymbolik, so ist das nicht beabsichtigt. All dies beruht auf durchaus nachvollziehbaren und pragmatischen Gründen. Wie gesagt, die Wege sind weit und das öffentliche Nahverkehrssystem nur rudimentär vorhanden. Das Auto auf dem Land ist so wichtig wie das Pferd im Wilden Westen. Wer nicht reiten kann oder kein Pferd besitzt, ist zum Tod durch Verdursten verdammt. Selbst die allergrößten "Ökospinner" mussten sich diesem Mobilitätsdruck beugen.

Jeder Jugendliche fieberte seit Beginn der Pubertät auf den Tag hin, an dem er selbst am Steuer eines PKWs sitzen konnte. Jeder fuhr. Die Mofagang-Mitglieder hatten ihre Mofas mittlerweile durch schwarze Golf-GTIs ersetzt. Die Mofas wurden an jüngere MoGaMis verkauft oder verstaubten in den geräumigen Garagen der Doppelhaushälften und Reihenhäuser.

Noch einmal trafen sich die Wege der Jugendlichen, bis sie sich dann in den folgenden Jahren ausdifferenzierten und Erinnerungen das Einzige werden, was die Menschen noch verbindet. Noch einmal trafen sich alle bei Horst in dem verrauchten Raum mit den Verkehrsschildern und der untoten Yuka-Palme. Jeder machte den Führerschein. Wirklich jeder.

Das Kapitel ist entnommen aus: Philipp Mattheis, In Dingenskirchen, rowohlt, 270 Seiten, Oktober 2011, 8,99 Euro.

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