Arme Alte:"Sie haben zu viele Krankheiten"

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Gesundheit ist eine Frage des Preises: Manche Ärzte lehnen Senioren als Patienten ab, weil sie nichts an ihnen verdienen.

Sibylle Steinkohl

Der Abend ist bunt: Weiß verdünnt das Blut, rot senkt den Blutdruck, blau stärkt den Magen. Herta Siegner (die Namen der Seniorinnen sind geändert) öffnet ein Fach des Medikamentenkästchens, in das ihr der Pflegedienst immer die Ration des Tages einsortiert. "Nur vier Stück heute Abend", zählt die 76-Jährige, "in der Früh sind es mehr, mindestens sechs verschiedene Sachen." Und das ist noch nicht alles.

(Foto: Foto: dpa)

Auf dem Tisch stehen auch einige Fläschchen mit Arzneien, zum Beispiel die Tropfen gegen die Schmerzen und der Sirup zum Abführen. Wegen ihres "kaputten Darms" muss die alte Frau sehr darauf achten, dass sie keine Verstopfung bekommt. "Das Mittel nehme ich trotzdem nur jeden zweiten Tag", erklärt sie, das müsse reichen.

Verschreiben geht nicht

Herta Siegner ist eine zuverlässige Patientin, die normalerweise macht, was ihr die Ärztin sagt, und schluckt, was ihr verordnet wird. Im Fall des Abführmittels freilich ist dies auch eine Preisfrage. Weil es das Präparat nicht auf Kassenrezept gibt, muss Herta Siegner die zehn Euro jedesmal aus der eigenen Tasche berappen. Wenn sie die Dosierung streckt, benötigt sie nur etwa alle 14 Tage eine neue Flasche, die für sie sparsamere Art, den Darm in Bewegung zu bringen. "Vor kurzem habe ich noch für ein anderes Medikament 30 Euro bezahlt", berichtet sie, "ich muss es haben, sagt der Arzt, aber verschreiben kann er es mir nicht."

Für manche alten Menschen in München ist eine Krankheit auch ein Rechenexempel. Herta Siegner gehört dazu. Sie nimmt es hin, ohne zu klagen. "So ist mein Leben", sagt sie ein paar Mal und erzählt, wie sie 46 Jahre lang als Putzfrau geschuftet hat, sogar noch mit offenen Beinen, bis sie mit 60 einen Herzinfarkt erlitten hat. Heute ist Herta Siegner das, was im Fachjargon "multimorbid" heißt, mit diversen Krankheiten geschlagen.

Sie hat Altersdiabetes und ein komplett lädiertes Knie, das die Ärzte wegen des Herzleidens nicht durch ein künstliches austauschen wollen, sie atmet schwer, in ihrer Lunge sammelt sich immer wieder Wasser - und sie kämpft seit vier Jahren gegen Darmkrebs, mit zwei Operationen und in Klinikaufenthalten. Als ihre Hausärztin vor einiger Zeit in den Ruhestand ging und sie sich einen neuen Doktor in der Nähe suchen wollte, habe sie sich beim ersten eine Abfuhr geholt, erzählt Frau Siegner.

Lieber nichts essen

"Sie haben zu viele Krankheiten", habe der Mediziner zu ihr gesagt. Herta Siegner macht mit den Fingern die typische Geste fürs Bezahlen: "Der mag halt bloß Patienten, die Geld haben."

Und da kann die Seniorin nicht viel bieten. 400 Euro Rente bleiben ihr nach Abzug der Miete im Monat übrig, um Strom und Telefon zu bezahlen, um ihren Lebensunterhalt und den Zuschuss zum Essen auf Rädern zu finanzieren - und Kranksein ist teuer. Auch wenn die Kassen nach wie vor die meisten Kosten übernehmen, auch wenn sich chronisch Kranke und bedürftige Menschen von bestimmten Zuzahlungen wie der Praxis- und der Medikamentengebühr befreien lassen können. Um den Hals von Herta Siegner hängt ein Notrufkästchen. Sie braucht nur den Knopf zu drücken, um die Johanniter zu alarmieren, "wenn ich stürze oder mal wieder keine Luft bekomme". Macht 16,60 Euro im Monat.

Dazu addieren sich die eine oder andere Arznei und der regelmäßige Besuch der Fußpflegerin. Für die Stützstrumpfhose musste sie 30 Euro selber zahlen. Im Durchschnitt würden im Monat gut 50 Euro für die Krankheiten draufgehen, schätzt Herta Siegner. Dass durch die Gewichtsschwankung aufgrund der Wassereinlagerungen manchmal die Kleidung eng wird und dann wieder eher schlottert, erträgt sie gelassen.

"Man muss mit dem zufrieden sein, was man hat", sagt sie, ohne zu jammern, und betont, nie im Leben einen Pfennig Schulden gemacht zu haben: "Lieber habe ich nichts gegessen."

Cornelia Teubner gehört zu den Ärzten, die nicht auf den Geldbeutel der Patienten schauen. "Entweder ich behandle alle oder ich höre auf", erklärt sie energisch, und wer ihr zuhört, kann sich gut vorstellen, dass sie sich von drohenden Budgetüberschreitungen oder Regressforderungen wenig beeindrucken lässt. Auch nicht von Söhnen und Töchtern, die ihren pflegebedürftigen Eltern nicht einmal die Krankengymnastik gönnen wollen: "Das ist oft unser Kampf im Heim."

Minimales Taschengeld

Denn etlichen Bewohnern bleibt aufgrund der hohen Wohnkosten, die die ganze Rente aufzehren und dann von Pflegeversicherung und Sozialamt übernommen werden, nur ein minimales Taschengeld. "Das reicht für keine Fußpflege und auch nicht für die Eigenleistung zur Krankengymnastik", ärgert sich die Hausärztin über die Armut im Pflegeheim, die alleinstehende Menschen am Ende ihres Lebens besonders hart trifft.

Für ihre Patientin Frau Siegner, die sich mit verschiedenen Hilfen noch zu Hause versorgen kann, hat sie vor kurzem ein neues Gehwägelchen bei der Krankenkasse beantragt - und hofft auf Erfolg. "Im Sozialdschungel muss man sich auskennen, um zu überleben", schildert Cornelia Teubner eine Situation, an der gerade alte Leute ohne Beistand leicht scheitern.

Auch dass für Einkommensschwache sich schon Kleinigkeiten zu einem großen Problem auswachsen können, erlebt die Ärztin immer wieder. "Paracetamol gegen Fieber, ein Abführmittel, Nasentropfen oder ein Vitaminpräparat muss jeder selber bezahlen", erläutert sie. Oder die Batterien für das Hörgerät oder eine Brille . . .

140 Euro! Das ungläubige Kopfschütteln von Maria Waldig, die für stärkere Gläser ein Drittel ihrer monatlichen Witwenrente dem Optiker über die Ladentheke geschoben hat, bleibt in Erinnerung. Die im vergangenen Winter verstorbene 88-Jährige, die vom SZ-Adventskalender für gute Werke unterstützt wurde, hatte das alte Gestell noch mit Leukoplast zusammengeklebt, um sich wenigstens diese Anschaffung zu sparen. Und nun die auffallenden Lücken im Mund von Erika Pfarr. Irgendwann lacht sie und sagt: "Ich bin die zahnlose Alte", obwohl die 71-jährige Künstlerin gleich am Anfang betont hat, dass sie über ihre fortgeschrittenen Jahre nicht zu reden gedenke.

Dann spricht sie doch nicht nur über ihre großflächigen, optimistisch farbigen Ölgemälde, sondern auch über ihre finanziellen Sorgen. Aus ihrem Gebiss sei vor einiger Zeit ein Zahn herausgebrochen, doch weil sie noch 150 Euro Zahnarzt-Schulden habe, mache sie nun einen weiten Bogen um die Praxis.

Nach der zweiten Tumoroperation hat sich die Kranke soeben wieder mühsam aufgerappelt. Gerne würde sie ihr geschwächtes Immunsystem mit ein paar Mitteln stärken, an deren Wirkung zumindest sie glaubt. Doch dafür fehlt der Seniorin mit der Minirente und ergänzender Grundsicherung das Geld. Die Zuzahlung für Windelhosen und Einlagen haben zwangsläufig Vorrang. Altersarmut und Krankheit gehen oft eine unselige Verbindung ein - oder wie Erika Pfarr mit grimmigem Humor sagt: "Da hat man mehr Stress als gesund ist."

© SZ vom 18.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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