Themenschwerpunkt:Die essgestörte Gesellschaft

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Arte zeigt zwei Dokus über Magersucht: In "Liebe Magersucht..." sprechen vier junge Frauen über den Kampf gegen ihre Essstörung, "Seht mich verschwinden" erzählt im Anschluss, wie sich ein Model zu Tode hungert.

Von Viola Schenz

Essen ist die Grundlage des Lebens, aber das ändert nichts daran, dass unser Verhältnis zum Essen gestört ist und wir besessen sind von "korrekter" Ernährung: Vegetarier allein reicht nicht mehr, man muss Veganer sein. "Gesunde" Lebensmittel dürfen kein Fett, keine Laktose, keinen Milchzucker enthalten. Überhaupt: Zucker! Teufelszeug Nummer eins. Parallel zu Ernährungsmanien machen immer mehr Kliniken für Fettleibige und Magersüchtige auf.

Um Magersucht dreht sich der späte Abend auf Arte, um eine komplexe und paradoxe Sucht: Diese "Krankheit des Verweigerns", wie sie ein Therapeut nennt, kommt ohne Droge aus, hat aber dieselben psychologischen Komponenten wie andere Abhängigkeiten; und sie führt zu mehr Suiziden als andere psychische Störungen. Im Dokumentarfilm Liebe Magersucht ... sprechen vier junge Frauen aus Frankreich, England und Rumänien über den Kampf gegen ihre Essstörung. Psychologen, Psychiater, Krankenschwestern in Frankreich, Italien, Deutschland, Rumänien berichten aus ihrem langjährigen Umgang mit der Sucht, mit Süchtigen und deren Familien. Die internationale Ausrichtung hat ihren Grund: Länder, die sich schnell einem westlichen Lebensstil anpassen, erleben einen Anstieg von Essstörungen. Die Debatte über Ursachen und Behandlungen von Anorexia ist nicht neu; für Gesellschaft und Medien bleibt das Thema aber ein Faszinosum, schon wegen der erschreckenden Bilder, die es abwirft.

Die Doku stellt den Forschungsstand unaufgeregt und sehenswert dar. Sie ist interviewlastig, das macht sie bisweilen etwas ermüdend, aber es beeindruckt, wie klar und klug die vier Betroffenen ihre Sucht sehen und analysieren: "Wenn die anderen aßen, habe ich mich gefreut: Die sind schwach, ich bin stark. Mein Magen gehorcht mir." "Man hat die Kontrolle, beherrscht seinen Körper - und rennt sehenden Auges in die Hölle." "Man fühlt sich topfit, gerade das macht Angst."

Verstörend wird es im Anschluss: Regisseurin Kiki Allgeier begleitet das Fotomodell Isabelle Caro bis in den Tod 2010. Caro wurde 2007 auf zweifelhafte Weise berühmt, als sie sich nackt und auf 32 Kilogramm abgemagert für eine Anti-Anorexia-Kampagne fotografieren ließ. Dass beide Dokus eingebettet sind in Filme über Cholesterin, Schlemmen und einen Bodybuilder, mag man als schlechten Witz sehen oder als Zustandsbeschreibung einer essgestörten Gesellschaft.

"Liebe Magersucht" ... und "Seht mich verschwinden" , Arte, von 22 Uhr an.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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