Rundfunk Berlin Brandenburg:Höhergelegt

20 Jahre Radioeins

Abends wird vom 14. Stock des RBB-Fernsehzentrums aus Programm für Radioeins gemacht – live und vor so vielen Leuten, wie eben reingehen.

(Foto: rbb/Thomas Ernst)

Seit 20 Jahren gibt es in Berlin Radioeins. Das Programm verstößt leidenschaftlich gegen übliche Erfolgsregeln. Dafür lieben es die Hörer - und für eine Bar über den Dächern der Hauptstadt.

Von Jens Schneider

Die besten Zaubertricks sind ganz einfacher Natur. Man muss nur draufkommen, und sie sich dann trauen. Als der Programmchef Robert Skuppin, 53, die Idee für die "Radioeins-Lounge" über den Dächern von Berlin hatte, stieß er nicht nur auf Begeisterung. Das Fernsehzentrum des RBB am Theodor-Heuss-Platz in Charlottenburg liegt an der Peripherie des Zentrums der Hauptstadt. Da kommt man nicht mal eben vorbei. Das ist eine kleine Weltreise aus Berlin-Mitte oder vom Prenzlauer Berg. Es hätte also passieren können, dass keiner gekommen wäre. Schön dumm hätte der Programmchef dagestanden.

Wer etwas zu sagen hat, bekommt bei diesem Sender fast alle Zeit der Welt

Es passt zu Radioeins, dem außergewöhnlichen Programm unter den Radiosendern des öffentlich-rechtlichen RBB, des Rundfunks Berlin Brandenburg, dass sie es doch probierten. Nach dem Berliner Motto: Geht die Sache schief, geht sie halt schief. Intendantin Patricia Schlesinger machte sich die Idee zu eigen, und so wurde zum 20. Geburtstag des Hörfunkprogramms aus dem Dach des RBB-Fernsehzentrums eine Dachterrasse.

Jetzt gibt es dort im 14. Stock für sechs Monate eine Bar. Ein Konferenzraum wurde zur Lounge umgebaut, und zwar so, dass man vom Barhocker einen atemberaubenden Blick über Berlin hat. Jeden Tag kommen mehr Leute und werden verzaubert vom Blick hin zum Olympiastadion im Westen und dem Fernsehturm am Alexanderplatz im Osten. Es ist typisch für Berlin und Radioeins, dass die Besucher ohne Anmeldung reinschneien, kein Ticket brauchen. Man stellt sich am Lift an. Wenn voll ist, ist voll. Vorab lässt sich ein Vier-Gänge-Menü vorbestellen, man kann Snacks kaufen. Aber niemand muss konsumieren.

Viele gucken nur - und sie hören. Von 19 Uhr an wird zwei Stunden live gesendet, das hat etwas von einem Konzert oder einer Lesung. Radioeins ist in den Jahren seit der Gründung im August 1997 zum Prototyp für ein kluges Großstadtradio geworden. An guten Tagen erreicht es sein Publikum, weil man leidenschaftlich gegen die Regeln verstößt, die ein Radioprogramm angeblich einhalten muss, um Hörer zu binden. Interviews geraten mal länger, aber werden mit so viel Leidenschaft geführt, dass man gern acht Minuten zuhört. "Es braucht Kanten", sagt Skuppin, das gilt für Musiker, Studiogäste und Moderatoren.

An diesem Abend empfängt die Moderatorin Marion Brasch einen amerikanischen Songwriter. Es sind bestenfalls wenige in der Lounge, die schon mal von Shawn James and The Shapeshifters gehört haben. Aber das macht es interessant. Brasch will zunächst wissen, wie seine Songs entstehen. Dann spielt er, singt mit einer gewaltigen Stimme. Jeden Tag gibt es so ein kleines Konzert, in Berlin sind genug Künstler zu Gast, und es sorgt hier niemanden, dass ihre Musik eigen und rau ist.

Vor der Bundestagswahl kommt auch morgens Programm aus der Lounge, vielleicht sogar fürs TV

Das Programm startete vor zwanzig Jahren als Fusion aus den Sendern Radio B Zwei des SFB (West) und Radio Brandenburg des ORB (Ost). Damals gaben die Gründer die Devise aus, dass "Tiefgang, Haltung und Stil" das Programm bestimmen sollten - als Gegenmodell zum Formatradio der Privaten. "Der Start war grauenhaft", sagt Programmchef Skuppin. Zwar war die Musik von Hand ausgesucht, aber die Mischung miserabel gewesen, Interviews ellenlang, aber oft langweilig. Radioeins war Monate nach seiner Geburt ein Spott-Objekt, es gab keine Hörer. Den Umschwung brachten markante Moderatoren, Skuppin war einer von ihnen.

Zur eigenen Färbung gehörte seither, dass jeder alle Freiheiten haben soll, wenn er den Job kann. So wurde Radioeins mitgeprägt von Köpfen wie Jan Böhmermann, der inzwischen zu Spotify wechselte, oder Jörg Thadeusz. Hoch geschätzt werden Experten wie der Filmkritiker Knut Elstermann, eine Institution bei jeder Berlinale. Wer was zu sagen hat, kriegt fast alle Zeit der Welt - so wie in der Sendung aus der Lounge der Musikprofessor Hartmut Fladt. Regelmäßig analysiert er im Programm den Aufbau von Songs, diesmal "Junimond" von Rio Reiser. Fladt bringt Raffinesse zum Vorschein, stellt Bezüge zu Brecht/Weill heraus, spricht von Kontrapunkten und ungewöhnlicher Tonart. Er verliert sich in Schwärmerei, fast zwanzig Minuten, bietet ein kleines Kunstwerk.

Bei alledem ist Radioeins nicht unabhängig von Erfolgszahlen. Man sendet Werbung, man will und braucht Hörer. Skuppin möchte kein Nischenprogramm machen. Zuletzt lag Radioeins unter den Berliner Radioprogrammen im oberen Mittelfeld. Auch sind erfolgreiche Songs nicht verpönt. Die Musik ist oft sperrig, weil das spannender ist. Niemand käme auf die Idee, wie sonst üblich, erst mal durch Marktforscher prüfen zu lassen, ob ein Titel ankommt. Die Liebe entscheidet. So gestalten auch Musiker wie Bela B. von den Ärzten oder Flake von Rammstein regelmäßig Sendungen nach ihrem Geschmack, über alle Genregrenzen hinweg.

Von Berlinern hört man oft, dass sie das Programm auf Anhieb erkennen. Und fern der Hauptstadt hören es offenbar viele, die sich der Metropole nahe fühlen wollen: Programmchef Skuppin berichtet von erheblichen Reichweiten aus Gebieten jenseits des regionalen Sendegebiets. Radioeins ist ein Metropolensender, wie es ihn in Deutschland wohl nur in Berlin geben kann. Dabei hat der Sender eigentlich seinen Sitz in Potsdam in einem Idyll am Griebnitzsee. Marktführer sei man freilich in Berlin-Mitte, erzählt Skuppin.

Anfang September, vor der Bundestagswahl, soll auch am Morgen aus der Lounge gesendet werden. Der RBB will das im Internet streamen, der Radioeins-Chef könnte sich sogar vorstellen, es morgens im Fernsehprogramm des RBB zu übertragen. Das RBB-Fernsehen würde das gut vertragen. Alles, was Radioeins ausmacht, fehlt dem Fernsehen. Dort werden gerade Reformen vorbereitet, nicht zufällig sind Köpfe von Radioeins vorn dabei. Aber auch das Radio müsse sich weiter entwickeln, sagt Skuppin und fragt: "Könnte man in einer Großstadt wie Berlin eine multimediale Morgenshow übertragen?" Vielleicht als Frühstücksfernehen? Wieder so eine Idee, mit einem Risiko, das sich lohnen könnte.

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