Kritik an Video:Unter Feinden?

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"Die Welt" hat für eine Video-Reportage einen orthodoxen Juden in ein Flüchtlingsheim geschickt. Im Netz ist der Clip ein großer Erfolg, doch bei Flüchtlingshelfern und bei in Deutschland lebenden Israelis sorgt er für heftige Kritik.

Von Thorsten Schmitz

Ein dreiminütiges Video unter Titel "Gewagte Begegnung", das die Welt vor ein paar Tagen auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat, sorgt für heftige Kritik unter in Deutschland lebenden Israelis und bei Flüchtlingshelfern. Der mit Technomusik unterlegte Clip zeigt den eigens für den Film inszenierten Besuch des orthodoxen Israelis Yonatan Shay in der überwiegend von muslimischen Flüchtlingen bewohnten Notunterkunft Tempelhof. Im Film spricht fast ausschließlich Shay - die Flüchtlinge, mit denen er zu kommunizieren versucht, verstehen ihn offensichtlich kaum. Obwohl kein einziger Flüchtling zu Shay im Video etwas Antisemitisches oder Antiisraelisches sagt, zieht er am Ende Bilanz: "Das ist ein Beleg, dass Antisemitismus da ist. Vor allem die jungen Flüchtlinge sind indoktriniert." Beweis ist für ihn ein Hakenkreuz, das er an einer Wand findet, dessen Herkunft aber ungeklärt ist.

Tal Alon, die Chefredakteurin des Berliner Magazins Spitz, äußerte sich entsetzt über das Video, das bei Facebook bereits mehr als 422 000 Mal angeklickt worden ist. Es gebe sicher Antisemitismus unter Flüchtlingen, sagte sie der SZ, aber diese "unter Generalverdacht zu stellen mit einem konstruierten Video, das die Wirklichkeit verzerrt", halte sie für "journalistisch höchst unethisch". Dekel Peretz vom Freundeskreis der Fraenkelufer Synagoge erklärte: "Das Video ist kein Journalismus, sondern Propaganda." Auch die Pressesprecherin der Flüchtlingsunterkunft Maria Kipp äußerte Kritik. Sie habe den Welt-Journalisten und Shay nach eineinhalb Stunden gebeten, die Unterkunft zu verlassen. "Sie haben sich angemeldet mit der Information, sie wollten einen allgemeinen Bericht über die Notunterkunft machen, stattdessen haben sie provozierende Suggestivfragen gestellt." Sie halte das Video für "höchst fragwürdig". Für fragwürdig hält sie auch, dass der Welt-Journalist keinen Übersetzer dabei gehabt habe bei den Interviews. "Die Flüchtlinge haben die beiden überhaupt nicht verstanden", sagte Kipp.

Shay selbst hat sich inzwischen vorsichtig von dem Clip distanziert: "Man hätte die Reportage besser zusammenstellen und schneiden können", antwortete er einem Kritiker bei Facebook. Die Welt habe offenbar "ihre eigene Agenda" gehabt. Der Welt-Journalist mochte auf Anfrage keine Stellung beziehen. In einer E-Mail, die der SZ vorliegt, schrieb er an Tal Alon: "Wir sind sehr überrascht über die heftige Kritik." Vom Springer-Verlag heißt es lediglich, die Welt habe in dem Video "mit journalistischer Sorgfalt differenziert" berichtet.

© SZ vom 01.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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