Expansionspläne:Vice versa

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Der hippen US-Firma gelingt, womit klassische Medienhäuser ringen: junge Menschen zu erreichen. Der neueste Coup von Vice-Gründer Shane Smith ist ausgerechnet ein altmodischer Fernsehsender.

Von Kathrin Werner

Es ist gut für Shane Smith, dass er jetzt seinen eigenen Fernsehkanal bekommt. Wenn er spricht, sagt er so oft "Fuck", dass seine Reden auf anderen amerikanischen Sendern wie eine Aneinanderreihung von "Beeps" klingen würden, ein Großteil wegzensiert für das amerikanische Anstandsgefühl. Smith ist egal, wie er klingt, genau wie die Regeln der alten Medienwelt. Gerade hat der Gründer, Chef und Miteigentümer von Vice dem Magazin Hollywood Reporter ein Interview gegeben. Das Wort "Fuck" kommt 52-mal vor - beziehungsweise abgekürzt zu "f—", wie sich das in den USA gehört.

Vor ein paar Jahren kannte kaum jemand Vice, heute redet Smith davon, der größte Medienkonzern der Welt zu werden, "the biggest f—ing media company in the world". Am Montag startet die neueste Sparte seines Imperiums, die ihn der Weltherrschaft näherbringen soll: sein eigener TV-Sender, genannt Viceland. Anschauen kann man den erst einmal nur in den USA, der Rest der Welt soll folgen. Smiths Mission: "Wir versuchen, nicht beschissen zu sein", sagt der 46-Jährige.

Vice hat geschafft, womit die alte Medienwelt seit Langem ringt. Das Unternehmen hat junge Menschen an sich gebunden in einer Zeit, in der sie für die Medien als verloren galten. Vice wuchs, als alle anderen schrumpften. Smith weiß offenbar, was cool ist - und was sich verkaufen lässt. Jetzt wagt sich Vice zur alten Tante Fernsehen mit ihren schrumpfenden Einschaltquoten. Es ist ein Experiment, das die Medienwelt genau beobachtet: Kann Vice das Fernsehen wieder cool machen?

Er will auf das Cover des Time-Magazins, ins Weiße Haus hat er es schon geschafft: Vice-Gründer Shane Smith und seine Frau Tamyka. (Foto: Andrew Harrer/Bloomberg)

Smith hat das Vice-Imperium 1994 gegründet, heute hat er mehr als 2000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt, auch in Deutschland. Angefangen hat Smith, ein Kanadier, mit einem kleinen, staatlich geförderten Untergrund-Stadtmagazin namens Voice of Montreal, 1996 taufte er es um in Vice. Vice ist das englische Wort für Laster - es passte besser zu dem Heft, das sich um Themen kümmert, die junge Menschen interessieren, in den etablierten Medien aber kaum vorkamen, zum Beispiel Punk, Drogen und Rap. In den späten 90er-Jahren stieg ein Investor ein und holte den kleinen Verlag nach New York. Doch der Investor, ein Software-Millionär, verlor in der Dotcom-Krise viel Geld, Smith und seine Gründerkollegen kauften Vice bald zurück und zogen in New Yorks damals coolsten Stadtteil Williamsburg. Vice wuchs rasant, der Online-Auftritt verdiente bald mehr Geld als das Print-Magazin. Inzwischen gehören etliche Webseiten zur Firma, etwa Motherboard für Tech-Themen, Noisey für Musik und Munchies für Artikel übers Essen. Früh setzte Smith im Netz auch auf Videos - die Werbung, die man Clips vorschalten kann, bringt gute Einnahmen. Seit ein paar Jahren hat Smith auch eine Kooperation mit dem Bezahlsender HBO, der Vice-Reportagen ausstrahlt und bald auch ein tägliches Nachrichtenformat. Sie soll neben Viceland weiterlaufen. HBO wird eher Nachrichtenbeiträge von Vice ausstrahlen, Viceland eher Lifestyle.

Viele halten Vice-Reportagen für flach oder geschmacklos. Aber die Kritik ist leiser geworden

Vice macht enthusiastischen, engagierten Drauflos-Journalismus, der fast immer auch den Journalisten selbst zum Thema macht. Auf dem neuen Sender wird es zum Beispiel die Doku-Serie Gaycation mit der kanadischen Schauspielerin Ellen Page geben, in der es um Homo-, Bi- und Transsexualität geht. Page ist lesbisch, ihr bester Freund schwul, zusammen treffen sie einen brasilianischen Homosexuellen-Mörder und fragen ihn, ob er findet, dass sie lieber tot sein sollten.

ViceJournalismus wirkt oft ein wenig improvisiert. Die Themen sind ernst und neugierig, Vice-Journalisten waren die Ersten, die aus dem Inneren der Terrorgruppe IS berichteten - und begleiteten den Basketballer Dennis Rodman nach Nordkorea, wo der sich mit Kim Jong Un anfreundete. Im etablierten Journalismus gibt es viele, die den Drauflos-Journalismus flach finden und manchmal sogar geschmacklos, etwa bei Überschriften wie "Ich war undercover in Amerikas härtestem Knast". Der legendäre Medienkritiker David Carr von der New York Times sagte einmal über eine Liberia-Reportage, die Exkremente am Strand filmte: "Einen fucking Safari-Hut aufziehen und ein bisschen Kacke anschauen." Aber die Kritik ist leiser geworden, insbesondere nach ernsten Reportagen aus Syrien und der Ukraine. Kürzlich hat sogar US-Präsident Barack Obama Vice ein Interview gegeben.

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Nun also kommt zu dem Heft, der Webseite, den Videos und den Auftritten in sozialen Medien ein TV-Sender. Dabei sind Millennials, also die zwischen den frühen Achtzigerjahren und Anfang der 2000er-Jahre Geborenen, eigentlich dafür bekannt, nicht mehr fernzusehen, sondern lieber Serien bei Netflix oder Videos bei Youtube anzuschauen. Eine Umfrage des Marktforschers Pew Research Center kam vor Kurzem zu dem Ergebnis, dass fast jeder fünfte Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren seine Kabel- oder Satellitenverbindung abgeschafft hat, 16 Prozent hatten überhaupt noch nie einen klassischen Fernsehvertrag. Alte amerikanische Kabelkanäle wie CNN investieren immer mehr in ihre Internetauftritte. Vice geht den Weg andersrum: vom Netz in die gute, alte Flimmerkiste. Warum nur? "75 Prozent des Werbebudgets der Welt sind immer noch im Fernsehen", sagt Smith. "Warum soll ich die nicht kriegen, wenn all die anderen sie kriegen, die keine verdammte Ahnung haben, was sie tun?"

Das Risiko ist überschaubar. Viceland übernimmt den Sendeplatz von H2, einem Doku-Kanal des Medienunternehmens A+E. Viceland erreicht so von Montag an mehr als 70 Millionen Haushalte. A+E ist an Viceland beteiligt und gehört den Konzernen Hearst und Disney, Disney ist wiederum direkt an Vice Media beteiligt. Die Unternehmen teilen sich so die Kosten für Viceland. H2 hat in den in den vergangenen Jahren sowieso kaum noch jemand geschaut, die Messlatte hängt also nicht besonders hoch - und im ersten halben Jahr will Viceland die Einschaltquoten geheim halten. "In zwölf Monaten sind wir auf dem Titel des Time-Magazins als die Typen, die Millennials zurück zum Fernseher gebracht haben", sagt Smith - einer seiner wenigen "Fuck"-freien Sätze.

Smith ist noch immer Haupteigentümer von Vice. Der Konzern hat ihn reich gemacht. Seit Disney eingestiegen ist, wird der Unternehmenswert auf 4 Milliarden Dollar geschätzt. Wie Vice mit manchen Projekten Geld verdient, gefällt vielen Medienexperten nicht. Sie kritisieren, dass der Inhalt vom Geschäft der Werbekunden nicht genug getrennt ist, zum Beispiel hat die Outdoor-Klamottenfirma North Face eine Serie über Menschen in entlegenen Regionen der Welt finanziert. Die Boulevardpresse berichtet außerdem genüsslich über Smiths Liebe zum Geldausgeben, zum Beispiel ein 300 000 Dollar teures Dinner. Smith ist das egal, er macht, was er will, sagt er: "I can do what I f—ing want."

© SZ vom 26.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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