Dokumentation:Aufstehen, Vater dirigiert!

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Das Erste zeigt eine Dokumentation über das Musik-Urgestein Udo Lindenberg. Ein Mann, dessen Größe selbst diese 90-minütige Liebeserklärung nur andeutungsweise zu umschreiben vermag.

Von Cornelius Pollmer

Der Beginn dieser Dienstfahrt führt durchs nachtschwarze London, Udo Lindenberg sitzt im Fond eines Wagens, doch als Zuschauer sieht man weder ihn noch die Stadt, man sieht stattdessen die Dunkelheit und in deren Mitte die Glutkuppe einer Zigarre. Wie der Leuchtefinger von E. T. glimmt sanft dieser Punkt, und das wäre dann auch schon eine Art Inhaltsangabe dieser Dokumentation über den bald siebzigjährigen Udo Lindenberg. Erzählt wird von einem Außerirdischen, der laut Eigenauskunft 1946 von einem Meteoriten auf ein Doppelkornfeld in Gronau, Westfalen, purzelte. Erzählt wird vom Suchen und Zweifeln dieses Außerirdischen und von seinem Leben, dessen Größe selbst diese 90-minütige Dokumentation nur andeutungsweise zu umschreiben vermag.

Der kommende Sonntag ist auch ein Feiertag, weshalb das Erste nach dem Tatort nicht Anne Will zeigt, sondern diesen Film von Falko Korth. Angekündigt ist Stärker als die Zeit als Dokumentation, aber das ist mindestens geschummelt. Der Lindenberg-erfahrene Korth hat einen Liebesfilm gedreht, bedingungsloses Kniefallkino. Dies wäre jetzt streng zu verurteilen, hätte er ein Politikerporträt angefertigt oder eine Dokumentation über die deutsche Abfallwirtschaft. Gegenstand dieses Films aber ist eben Udo Lindenberg, einer, der sich selbst und schon früh als "Spezialverrückten" erkannt hat und der so deutlich, wenn nicht über, so doch außerhalb der Dinge steht, dass man sein Curriculum Vitae nun bitte nicht auf Millimeterpapier nachgemalt bekommen möchte.

Neulich, erzählt er, sei der Sensenmann zu ihm gekommen. Doch der sah den Stinkefinger

Intensivkenner Lindenbergs werden Korths Film als zu brav empfinden, weil der Regisseur sich etwas zu häufig für Archivmaterial entschieden und etwas zu selten auf die exklusiven Zugänge vertraut hat, die Lindenberg ihm in den vergangenen zwei Jahren gewährte: Orchesteraufnahmen in den Abbey-Road-Studios, ausführlicher Zeitzeugenschnack an Lindenbergs Hauptwohnsitz im Hotel Atlantic, ein offenes Gespräch mit seiner Schwester Inge. Als Normalzuschauer aber darf man dankbar sein für diesen Film, weil er entschlossen gewichtet und Lindenberg als jene Kostbarkeit leuchten lässt, die er für dieses kleingärtnernde Land bedeutet.

Korth erzählt von der Kindheit Lindenbergs und von seiner erstaunlichen Rückkehr nach dem Schlechtwetterjahrzehnt vor der Jahrtausendwende. Das viele Bekannte dazwischen reduziert Korth auf wenige Sätze, notwendige Härte, um sich nicht in Stichpunkten zu verlieren. So aber bleibt Zeit, um von den Mandelaugen Hermines zu erzählen. Ihr Sohn Udo erzählt vom weiten Weg der Mutter, mündend in die Selbsterkenntnis: "In diesen Adern rollt original Sklavenblut." Auch Vater Gustav erfährt durch seinen Sohn eine kritische Würdigung. Dankbar ist dieser für die "Crazyness", die sein Vater ihm zweifellos mitgegeben habe. Immer noch verstört scheint er von den Exzessen Gustavs, der anders als der Sohn seinen Träumen nur im Saufen nahekam und danach nicht selten mit einem Befehl nach Hause: "Aufstehen, Vater dirigiert!" Die Kinder standen also auf, mitten in der Nacht, der Vater taumelte auf dem Tisch und forderte Gesang, vom "Ave Maria" bis Freddy Quinn.

Aus dieser Kindheit erwuchs ein Mann, von dem seine Chefeinkleiderin heute sagt: "Der ist ja immer noch ein Kind, das ist ja das Schöne." Wie zum Beweis erzählt Lindenberg später im Film, der Sensenmann sei neulich zu ihm gekommen. Er, Lindenberg, habe dessen Ansinnen leider nicht folgen können und gesagt, er werde jetzt noch locker 30 Jahre singen. Lindenberg erzählt all das und dann sieht man einen fast Siebzigjährigen, der grinsend und gestenreich seinen Mittel- zum Stinkefinger hochkurbelt. Man möchte weinen in seiner kleinen Freude darüber, dass so ein Leben wirklich möglich ist.

Stärker als die Zeit entspricht schon vom Namen her dem neuen Album Lindenbergs, er gibt seinem Protagonisten auch sonst viel werbenden Raum: stark wie nie, noch mal angreifen, und so weiter. Aber der Film bekommt durch die Einschätzungen von Umfeldianern wie Jan Delay, Tine Acke oder Benjamin von Stuckrad-Barre auch Tiefe. Die Fotografin und Tiefen-Vertraute Acke erklärt Lindenbergs Differenzierung zwischen Bluts- und Wahlfamilie. Der Schriftsteller und Groß-Udologe Stuckrad-Barre erläutert die "doch sehr laxe Personalpolitik" Lindenbergs - damit sei kein Konzern zu führen, Lindenberg aber habe so eine ziemlich schlagkräftige "Armee von Sonderlingen" rekrutiert, in der sich alle benähmen "wie Kinder, die betrunken spielen". Ausgerechnet der Musiker Delay schließlich spricht mit seiner Spezialstimme über das Spezialnuscheln Lindenbergs. "Man denkt immer, der hat nen Triller unterm Pony, aber hat er nicht", sagt Delay, und das ist nun ein Freispruch allererster und komischster Klasse.

Vor ein paar Tagen präsentierte der produzierende MDR den Film in Hamburg, Lindenberg kam danach für ein Gespräch auf die Bühne. Es wurde, natürlich, wieder viel gelacht - nicht so sehr aber, als Lindenberg sich selbst ernsthaft eingruppierte als einer der "Pioniere von morgen, zu denen ich ja auch noch gehöre". Exakt dieser Geist ist gemeint, was die Schein-Floskel "Stärker als die Zeit" anzudeuten versucht.

Udo Lindenberg - Stärker als die Zeit , ARD, Sonntag, 21.45 Uhr.

© SZ vom 30.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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