Die Zukunft von Regionalzeitungen:Neue Welten

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Illustration: SZ-Grafik (Foto: Tönsmann)

Die "Ibbenbürener Volkszeitung" macht ihren Lesern ein bisher einmaliges Angebot: Sie können nur die Themen kaufen, die sie auch haben möchten. Ein Redaktionsbesuch.

Von Anna von Garmissen

Vor drei Jahren wurde aus der Redakteurin Cornelia Ruholl eine Kapitänin. Keine allerdings, die zur See fährt. Ruholl arbeitet nach wie vor für die Ibbenbürener Volkszeitung (IVZ), betreut dort das Fachgebiet Familie und Schule. Ihr symbolisches Kapitänsamt steht vielmehr für einen Kulturwandel bei der traditionsreichen Zeitung aus der 50 000-Einwohner-Stadt im Tecklenburger Land, nördlich von Münster. 120 Jahre existiert die Ibbenbürener Volkszeitung bereits, hat zwei Weltkriege überstanden und kämpft nun um ihren Platz in der digitalisierten Welt.

Und genau dafür ist Cornelia Ruholl mit an Bord. Die ausgebildete Lehrerin gehört - wie viele der 15 Ibbenbürener Redakteurinnen und Redakteure - schon lange zum IVZ-Team. Mitte der 1980er-Jahre kam sie zu der Zeitung. Schul- und Bildungsthemen interessieren Cornelia Ruholl allein schon aus persönlicher Neigung, doch früher war für systematische, tiefere Recherchen in ihrem Fachgebiet kaum Zeit. Die Zeitung ist nach Ortschaften aufgeteilt - und so füllen die zuständigen Redakteure ihre Seiten mit allem, was im jeweilige Ortsteil anfällt, egal ob Ratssitzung, Sturmschäden oder Schützenfest. Bis auf wenige Ausnahmen wie etwa den Lokalsport-Redakteur sind die IVZ-ler bislang Generalisten, das ist hier nicht anders als bei anderen Blättern.

"Die lokalen Verlage befinden sich in einem Existenzkampf nie gekannten Ausmaßes"

Doch wie bei so vielen Regionalzeitungen sinkt auch die Auflage der IVZ - langsam, aber stetig. Zurzeit liegt sie bei etwa 18 000 verkauften Exemplaren pro Tag. Verleger Klaus Rieping nimmt an, dass sein Produkt noch etwa die Hälfte der Menschen im Tecklenburger Land erreicht. Vor allem junge Leute, glaubt er, sähen nicht mehr ein, Vollabos abzuschließen, wenn sie sich doch nur für einen bestimmten Teil der Lokalnews interessierten. Rieping, Ur-Enkel des Zeitungsgründers und ein hellwacher Geschäftsmann, hält die Lage dennoch nicht für aussichtslos. "Die lokalen Verlage befinden sich in einem Existenzkampf nie gekannten Ausmaßes", sagt er, "und wir wollen überleben."

Der Ibbenbürener Hoffnungen ruhen auf den "Themenwelten". Nach mehrjähriger, vor allem der Technik geschuldeter Entwicklungszeit ist das rein digitale Produkt vergangenen November mit einer kostenlosen Schnupperphase an den Start gegangen. Seit Anfang des Jahres muss dafür bezahlt werden. Das Konzept, das auf eine Idee von Klaus Rieping selbst zurückgeht, ist simpel: Statt ein Komplettabo für stolze 38,90 Euro im Monat zu buchen, können die Menschen für je drei Euro im Monat einzelne Themenfelder abonnieren - etwa "Blaulicht und Verkehr", "Lokale Wirtschaft" oder eben "Familie und Schule".

Insgesamt gibt es acht solcher Welten. Für jede von ihnen ist ein "Kapitän" zuständig. Er oder sie ist das Gesicht des Ressorts, verantwortet und gewichtet die Inhalte, gibt Lesetipps und ist Ansprechpartner. Alle Kapitäne haben Order, sich tiefer in ihre Fachgebiete einzuarbeiten als bisher möglich und ihre Leser stärker einzubinden - etwa in Form von Aufrufen oder Veranstaltungen.

Wer Kinder hat, bucht "Familie und Schule", vielleicht auch "Freizeit und Gesundheit". Karnevalisten und Schützen dürften sich vom "Vereinsleben" angesprochen fühlen. Und Fußballfreunde abonnieren den "Lokalsport" - so das Kalkül. Wer alle dieser Welten lesen möchte, erhält für 15 Euro den kompletten Zugang. Das Ganze findet sich übersichtlich aufbereitet auf einer laufend aktualisierten Webseite (www.ivz-themenwelten.de) und umfasst neben Texten auch Fotos und Videos. In den meisten Fällen entsprechen die Inhalte dem, was am selben oder nächsten Tag auch in der Zeitung und auf der kostenpflichtigen Website steht. "Es ist wie im Supermarkt", sagt die stellvertretende Redaktionsleiterin Sabine Plake: "Man sucht sich das Passende heraus."

Noch stehen die "Themenwelten" am Anfang. Doch Verleger Klaus Rieping glaubt an seine Idee, die früher oder später die Zeitungswebsite ersetzen und irgendwann zum Hauptprodukt werden sollen. Ihre Alles-oder-Nichts-Strategie werfen die Ibbenbürener dafür über den Haufen. Bisher galt nämlich: Wer IVZ-Inhalte lesen wollte, musste ein Printabo abschließen. Online ist kein einziger Artikel frei zugänglich. Es sei denn, man nutzt eine den Zeitungsmachern wohlbekannte Lücke: die Weitergabe von Benutzername und Passwort an Freunde, Nachbarn und Kollegen. Diese Möglichkeit ist Klaus Rieping zufolge weidlich genutzt worden. Nun will er die Lücke nach und nach schließen, pro Nutzer nur noch einen Zugang ermöglichen und aus heimlichen Mitlesern "Themenwelt"-Kunden machen.

"Die Herausforderungen sind groß", sagt der Redaktionsleiter: "Das ist Neuland für uns"

Jetzt könnte man fragen, was so bahnbrechend daran sein soll, herkömmliche Nachrichten nach Themen gebündelt im Netz anzubieten. Doch für viele Lokalzeitungen dürfte das Ibbenbürener Experiment von einigem Interesse sein - einerseits wegen des niedrigschwelligen Preismodells, das weder auf nutzerabschreckende Vollabos setzt noch auf die gerade im Lokalen völlig unzureichende Werbefinanzierung. Andererseits aber eben auch, weil es den Lokaljournalismus verändert - weg vom Generalistentum, hin zu mehr Tiefe.

Für die Redaktion, eine eingeschworene Gemeinschaft, bedeutet das erst mal: mehr Arbeit - trotz Unterstützung durch das gut ausgestattete Digitalteam. "Man kann nicht sagen, dass dieses Umschalten bei laufendem Betrieb nur auf Begeisterung stößt", sagt Sabine Plake. Doch die stellvertretende Redaktionsleiterin sieht auch schon erste Erfolge: "Wir entwickeln jetzt viel mehr eigene Ideen." Das bestätigt auch Cornelia Ruholl. "Früher war meine Arbeit mehr termingetrieben", sagt sie. Ruholl war die Erste, die eine "Kapitänsmütze" aufgesetzt bekam, um das Konzept zu testen. Heute ist sie die Bildungsexpertin der IVZ, platziert Themen, veröffentlicht Sonderseiten, etwa zur G8/G9-Debatte oder zur umstrittenen Zentralisierung der Hauptschulen im Verbreitungsgebiet. Schul- und Kita-Leiter kennen und schätzen die Journalistin.

Ein gemischtes erstes Fazit zieht Redaktionsleiter Claus Kossag. "Dass wir diesen digitalen Weg gehen müssen, ist bei der Mannschaft voll angekommen", sagt der 58-Jährige, der wie Plake und Ruholl seit Jahrzehnten bei der IVZ ist. "Aber die Herausforderungen sind groß. Das ist Neuland für uns." Trotz allen Aufwands ist ihm und seinem Team anzumerken, dass sie auch stolz darauf sind, mit ihrer IVZ möglicherweise zu den Wegbereitern eines neuartigen Lokaljournalismus zu gehören. Vieles muss sich aber noch einspielen - etwa die Zuordnung der Artikel. Soll der geplante Bau eines Sportzentrums in der Wirtschaft, im Lokalsport oder in der Politik erscheinen? Ein Thema in zwei Welten laufen zu lassen, sei kein Problem, sagt Kossag. Aber mehr sollten es nicht sein, und bei den Aufmachern sind Doubletten tabu. Wichtig ist auch, darauf zu achten, dass alle Kanäle stets ausreichend gefüllt sind. "Ohne intensive Kommunikation klappt es nicht", so Kossag.

Verleger Klaus Rieping weiß, dass er der Redaktion Zeit geben muss. "Wir kippen die gesamte Organisation. Da ist ein wenig natürliches Beharrungsvermögen verständlich." Ohne die Akzeptanz der Journalisten gehe aber gar nichts. Zudem weiß auch Rieping nicht so genau, wohin die Reise geht. Für die "Themenwelten" gibt es kein Vorbild. Und auch die Versuche, Partner für das Online-Wagnis zu gewinnen, blieben ergebnislos. "Wenn jemand eine bessere Idee hat", meint Klaus Rieping, "soll er sie mir sagen." Bis dahin versuchen sich die Ibbenbürener Zeitungsmacher eben selbst als Pioniere.

© SZ vom 12.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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