Auszeichnung fürs Lebenswerk:Klare Sache

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"Die Impulse etwas zu sagen, kamen aus meiner persönlichen Erfahrung", sagt Barbara Sichtermann. "Und ich glaube, dass es so sein soll." (Foto: PR)

Für ihre scharfsinnigen Essays bekommt die Publizistin Barbara Sichtermann den Theodor-Wolff-Preis. Frauen und das Fernsehen sind ihre Themen. Ein Besuch.

Von Mounia Meiborg

Barbara Sichtermann hasst szenische Einstiege. Das ist natürlich schade. Sonst könnte man jetzt beschreiben, wie sie kerzengerade in der Tür ihrer Altbauwohnung steht. Wie sie den Besucher ohne jeden Smalltalk in ein Zimmer mit hohen Decken führt, sich in einen Korbstuhl setzt und fragt: "Was wollen Sie wissen?" Und dass in ihrem vollgestopften Bücherregal die Memoiren von Leni Riefenstahl direkt neben einer Ulrike-Meinhof-Biografie stehen.

Beginnen wir ihr zuliebe also noch mal von vorn: Barbara Sichtermann, 72 Jahre alt, bekommt am Mittwoch den Theodor-Wolff-Preis für ihr Lebenswerk. Sie hat 30 Bücher und unzählige Essays geschrieben, in denen es um Frauen, das Verhältnis der Geschlechter, Sex, Kinder oder das deutsche Fernsehen geht. Egal bei welchem Thema: Immer hinterfragt Sichtermann ihre eigene Denkweise und schärft so ihre Argumentation. Im Vorwort eines Buches schreibt sie, sie begebe sich gern in die Höhle des Löwen - und dazu gehören eben auch Leni Riefenstahl und Ulrike Meinhof.

Frauen sind ihr Lebensthema, eine verkniffene Feministin ist sie deswegen noch lange nicht

Frauen waren ihr Thema und sind es geblieben. In den Siebzigerjahren gehörte Barbara Sichtermann der zweiten Welle der Frauenbewegung an, die sich aus den Studentenprotesten entwickelte. Sie demonstrierte in Berlin, fuhr auf Kongresse, um sich mit amerikanischen und skandinavischen Feministinnen auszutauschen, und sagte Nein, wenn ein Verehrer sie auf einer Party bat, ein Brötchen für ihn zu schmieren. "Wir haben alles in Frage gestellt und nochmal ganz neu angefangen", sagt sie. "Es war eine großartige Zeit."

Heute sehen das freilich einige Menschen anders. Junge Journalistinnen werden berühmt, wenn sie schreiben, dass der Feminismus sie anekelt. Das Bild der verkniffenen, männerfeindlichen Feministin hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Barbara Sichtermann will so gar nicht in dieses Bild passen. Gelassen sitzt sie in ihrem Korbstuhl, eine elegante Frau, die rosafarbenen Ohrringe passen zur rosafarbenen Bluse. Sie erzählt, wie sie sich Anfang der Siebzigerjahre einmal in der Woche in Kreuzberg in einem Café trafen und Arbeitsgruppen bildeten: "Das Bild der Frau in den Medien", "Frauen in den Parteien", "Abtreibung und Verhütung". Verkniffen habe keine ihrer Mitstreiterinnen ausgesehen. "Lauter wunderschöne, lebensfrohe Frauen waren das." Schon damals, sagt sie, hätten manche Leute versucht, die Bewegung schlecht zu machen. "Alice Schwarzer wurde angedichtet, sie sei herrschsüchtig und männerfeindlich. Das ist Quatsch! Aber so ein Etikett ist natürlich sehr praktisch. Man muss sich dann nicht mit den Inhalten auseinandersetzen und kann weitermachen wie zuvor."

Wenn man mit Barbara Sichtermann über Frauen spricht, ist man schnell im Mittelalter angelangt. Sie zieht große historische Linien: Von einigen Philosophen der Aufklärung, die mehr Rechte für Frauen forderten, über die literarischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zur Frauenbewegung der Zwanzigerjahre. Es ist ein Weitblick, der in heutigen Debatten oft fehlt.

Geboren wurde Barbara Sichtermann 1943. Die Mutter, eine Malerin, war ein gutes Vorbild in Sachen Emanzipation. Die drei Kinder hielten sie nicht davon ab, künstlerisch zu arbeiten. Sichtermann besuchte in Kiel ein angesehenes humanistisches Gymnasium, auf dem Mädchen in der Minderheit waren. "Wir haben immer gelebt mit dem Vorurteil: Du heiratest ja eh. Wozu brauchst du höhere Bildung?"

Nach dem Abitur absolvierte Sichtermann eine Schauspielausbildung. 1968 zog sie nach Berlin, um Sozialwissenschaften und VWL zu studieren. Ihre ersten Artikel schrieb sie in einer Frauenrechtszeitschrift, anonym, denn man verstand sich als Kollektiv. Eine journalistische Ausbildung hat sie nicht erhalten. "Dafür hatte ich Lebenserfahrung", sagt sie. Sie heiratete und bekam ein Kind - der Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin.

Sie schrieb ein Buch über das Leben mit einem Neugeborenen, das heute neu aufgelegt wird. Darin prangert sie eine kinderfeindliche Atmosphäre an und ermuntert Eltern, sich ihrem Baby sinnlich und intuitiv zu nähern. Geplant hatte sie das nicht. "Eigentlich wollte ich beim Schreiben ganz von mir selbst absehen", sagt sie und lächelt amüsiert. "Das habe ich aber nicht durchgehalten. Die Impulse etwas zu sagen, kamen aus meiner persönlichen Erfahrung. Und ich glaube, dass es so sein soll."

Entstanden sind so Essays, wie man sie in Deutschland - anders als im angelsächsischen Raum - selten findet. Klar in der Sprache, witzig in den Formulierungen, scharf in der Argumentation. Eigenes Erleben und gesellschaftliche Analyse verbinden sich zu Texten, die im besten Sinne lebensklug sind. In ihrem 1983 erschienenen Buch Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten schreibt sie so unverblümt und erkenntnisreich über Orgasmen, dass man sich als Nachgeborene fast ein bisschen prüde vorkommt. "Über Sex zu schreiben hat mich gereizt, weil es so schwer ist", sagt Sichtermann. Dahinter habe auch der Wunsch gesteckt, dass mit der Emanzipation bloß nicht die Erotik abhanden kommen solle.

Leidenschaftlich und subjektiv sind auch ihre Fernsehkritiken. Sie liebt dieses Medium sehr

Im selben Buch kritisiert sie auch sehr differenziert die Frauenbewegung; vor allem dafür, dass die in Teilen biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestreitet. Und Barbara Sichtermann weist darauf hin, dass Sex im Kapitalismus als Konsumgut fungiert - eine These, mit der 30 Jahre später die junge britische Autorin Laurie Penny in ihrem Buch Meat Market für Aufsehen sorgen wird.

Und dann ist da noch ihre Karriere als Fernsehkritikerin. Sie arbeitet für die Zeit, den Tagesspiegel und verschiedene Radiosender, 25 Jahre saß sie in der Jury des Grimme-Preises. Auch hier sind Geschlechter für sie ein Thema. Sie schreibt über weibliche Rollenbilder und männliche Inszenierungsweisen. Leidenschaftlich und subjektiv sind auch ihre Kritiken. Nach all den Jahren liebt sie dieses Medium immer noch. Einen freien Abend verbringt sie am liebsten vor dem Fernseher.

Dass sie den Theodor-Wolff-Preis für ihr Lebenswerk bekommt, freut Barbara Sichtermann. Aber es kommt ihr auch ein wenig merkwürdig vor. "Keine Ahnung, wie die auf mich gekommen sind", sagt sie zum Abschied. Dabei hätte sie die mädchenhafte Bescheidenheit gar nicht nötig.

© SZ vom 07.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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