Tagebuch New York:Stadt am Meer

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Auf Long Island hat die Badesaison begonnen, und die halbe Stadt macht sich auf in Richtung Strand. Die Menschendichte dort erinnert an das Oktoberfest.

Nikolaus Piper

New York liegt am Meer. Der Satz ist gar nicht so trivial, wie er klingt, denn im Bewusstsein und im Alltag der New Yorker spielt die Nähe zum Meer eine viel geringere Rolle als in anderen großen Küstenstädten, San Francisco etwa oder Barcelona.

Erschöpft von den Feierlichkeiten des Memorial Day schützt sich diese junge Frau vor der Sonne. Viele sind gleich an den Strand von Long Island geflüchtet. (Foto: Foto: Reuters)

An diesem Wochenende allerdings änderte sich die Beziehung der New Yorker zum Atlantik plötzlich. Auf Long Island begann die Badesaison, und die halbe Stadt schien sich in Richtung Strand aufzumachen.

Mit diesem Wochenende hat es eine besondere Bewandtnis: Am letzten Montag im Mai ist Memorial Day, das amerikanische Pendant zum Volkstrauertag, und deshalb heißt das ganze Wochenende "Memorial Day Weekend".

Seine Wurzeln hat der Memorial Day im amerikanischen Bürgerkrieg. Zu dessen Tradition gehören nicht nur das Gedenken an die Kriegstoten, Gebete und Flaggen auf Halbmast, sondern auch Picknicks und Ausflüge. Und dann beginnt an Memorial Day eben auch die amerikanische Reisesaison.

In diesem Jahr fiel - als besonderes Geschenk an deutsche Korrespondenten - Memorial Day mit dem deutschen Pfingstmontag zusammen. Wir begannen das lange Wochenende damit, dass wir mit der Long Island Railroad eine Stunde nach Osten bis nach Freeport und von dort mit dem Bus nach Jones Beach fuhren.

Jones Beach ist der von New York aus nächstliegende unter den großen Stränden Long Islands, und an diesem Wochenende sah er auch genau so aus. Die Menschendichte auf dem Strand war ungefähr so wie auf dem Oktoberfest.

Auch der Lärmpegel war durchaus vergleichbar. Das kam daher, dass anlässlich des Memorial Day eine Flugschau der US Airforce stattfand. Als die Thunderbirds mit ihren Nachbrennern weg waren, sorgte riesige Lautsprecherboxen dafür, dass man nicht auf die Idee verfiel, sich mit seinem Nachbarn zu unterhalten.

Es war nicht unbedingt ein beschaulicher Strandtag, aber es passte auch irgendwie zu New York, die Strandsaison so zu beginnen.

weiter: Eintrag vom 21. Mai 2007

Montag, 21. Mai 2007

Das Plakat zum Musical "LoveMusik" (Foto: Foto: OH)

Ein neues Erfolgsstück am Broadway heißt "LoveMusik" und wird im Biltmore-Theater in der 47. Straße gezeigt. Es handelt von der wechselvollen Liebesgeschichte des Komponisten Kurt Weill und seiner Frau, der Sängerin Lotte Lenya, vor 1933 in Berlin und später in New York. Das Stück bekam vier Nominierungen für den Tony Award, den Oscar der Broadway-Szene.

Der Erfolg von "LoveMusik" erstaunt schon deshalb, weil das Musical alles andere als eingängig ist; es gibt kaum Revueszenen, dafür sehr lange Dialoge, jedenfalls nach Broadway-Maßstäben. Die Geschichte hat auch keine dramatischen Höhepunkte, sondern wird in einer Folge von Episoden erzählt, die nur lose miteinander verbunden sind.

Wenn es gerade passt, baut der Autor Alfred Uhry ein Lied von Kurt Weill ein. Die meisten dieser Lieder sind eher still und bei weitem nicht so eingängig wie die Songs aus der Dreigroschenoper, die den Komponisten einst berühmt gemacht hatten: der "September-Song" zum Beispiel, "I don't love you" oder "Girl of the Moment".

Hinter dem Stück steht viel Forschungsarbeit. Die Texte beruhen auf den Briefen Lenyas und Weills, die bei der Weill-Stiftung in New York verwahrt werden. Uhry versuchte anhand dieses Materials, dem Publikum einen unbekannten Weill zu zeigen, und so ganz kann sein Musical diesen Bildungsauftrag auch nicht verbergen.

Die wichtigste Entdeckung ist jedoch die Schauspielerin Donna Murphy in der weiblichen Hauptrolle. Zu Recht überschlugen sich die Musikkritiker in New York mit ihrem Lob. Wüsste man es nicht besser, man würde glauben, dass dort wirklich Lotte Lenya auf der Bühne steht und das Lied vom Surabaya-Johnny singt: die Stimme, die Gestik und die Art, wie sie hinterher an ihrer Zigarette zieht.

Wegen dieser Szene steht am Eingang des Biltmore-Theaters übrigens ein Warnschild: "Achtung! In diesem Theaterstück wird geraucht!" Woran man erkennen kann, wie weit das Rauchen aus der amerikanischen Öffentlichkeit verbannt ist.

Für mich hatte "LoveMusik" noch einen anderen Nebenaspekt: Das ganze Musical wird von amerikanischen Schauspielern in deutschem Akzent gesungen. Zwar kommen im US-Fernsehen häufig Figuren vor, die nach deutscher Art das "th" wie "s" aussprechen und beim "w" die Zähne auf die Unterlippe pressen, statt den Konsonanten mit einem "u" anlauten zu lassen, wie sich das gehört.

Aber meistens handelt es sich dabei um Besatzungs-Offiziere, KZ-Wächter und ähnliche Leute. "LoveMusik" dagegen kann einen in dieser Hinsicht beruhigen: Auch amerikanische Regisseure wissen, dass man mit deutschen Akzent mehr kann als Kommandos schnarren. Zum Beispiel über Liebe, Eifersucht und Sex reden, flüstern und schreien.

weiter: Eintrag 14. Mai 2007

Montag, 14. Mai 2007

In meinem Tiefkühlfach liegt seit Ostern eine gefrorene Truthahnbrust, und mit der hat es folgende Bewandtnis: Bei "Steve's" Supermarkt teilte mir die Kassiererin am Ostersamstag begeistert mit, ich hätte durch meine Einkäufe während der vergangenen Wochen nicht weniger als 300 "Easter Points" gesammelt und würde für diese Treue jetzt belohnt. Ich müsse nur noch entscheiden, ob ich einen kompletten Schinken geschenkt haben wolle oder eben den Truthahn.

Willkommen in der Welt der amerikanischen Rabatt- und Kundenbindungsprogramme.

Früher einmal gab es in Deutschland bei jedem Kaufmann Rabattmärkchen: Man klebte sie in ein vierseitiges Heft, und wenn das voll war, bekam man an der Kasse 2 Mark 50. Dann verschwanden die Rabattmarken und machten "Payback", "Happy Digits" und Ähnlichem Platz. Doch das alles ist nichts verglichen mit dem, was den Verbrauchern in New York geboten wird.

Zum Beispiel das Prinzip "Kauf' zwei, zahl' eines". Bei der Drogeriekette CVS konnte man als Stammkunde eine Zeitlang jede zweite Großpackung Vitaminpillen umsonst mitnehmen - mein Vorrat reicht jetzt mindestens so lange, bis der Chefredakteur mich wieder nach München zurückruft.

Bei der Buchhandlung Borders konnte man drei Geschichtsbücher zum Preis von zweien kaufen; auf die Weise bekam ich eine sehr schöne Biographie von Benjamin Franklin geschenkt. An meinem Schlüsselbund hängen fünf Kundenkarten, die an den jeweiligen Kassen eingelesen werden, damit ich auch wirklich alle Kundenbindungs-Punkte gutgeschrieben bekomme.

Und wem das alles nicht reicht, der kann das Internet nach "Coupons" durchsuchen, die er dann in der nächst Eisenwarenhandlung, Apotheke oder Pizzeria einreicht und so ein paar Dollar spart.

Macy's, das berühmte Kaufhaus in Manhattan, bietet eine eigene Kreditkarte. Was die Macy's-Karte von anderen entscheidet, ist die Tatsache, dass man sie auch als Ausländer bekommt, der kreditmäßig noch ein unbeschriebenes Blatt ist und von amerikanischen Banken normalerweise mit tiefstem Misstrauen behandelt wird. Der Kreditrahmen bei Macy's ist mit 200 Dollar allerdings so klein, dass man auch als Ausländer damit beim besten Willen keinen Unfug machen kann.

Dafür kommt man mit ihr in den Genuss der unglaublichsten Sonderverkäufe: "wrap-up sale", "welcome home sale", "Presidents Day sale", "Mothers Day sale". Und nicht zu vergessen den "personal sale day": An diesem Tag gibt es für einen persönlich 15 Prozent Rabatt auf das gesamte Sortiment.

Im Grunde ist das Leben in New York ein einziges Sonderangebot. Ich frage mich nur, ob es einen Amerikaner gibt, der bei den ganzen Punkten, Sales und Coupons noch den Überblick behält. New York muss voller gefrorener Truthähne sein.

weiter: Eintrag 7. Mai 2007

Montag, 7. Mai 2007

Überraschend häufig trifft der Neu-New Yorker in Amerika auf Spuren der deutschen Sprache. Es sind nicht nur die üblichen Verdächtigen: der "kindergarten", der "blitzkrieg", die "gemuetlichkeit" oder die "German angst". Es ist auch zum Beispiel der New Yorker "Deli", das Delikatessen-Geschäft, das auf dem Umweg über das Jiddische an die amerikanische Ostküste gekommen ist, und heute meist als Synonym für einen Tante-Emma-Laden verwendet wird.

Noch schöner sind die scheinbar abseitigen Gelegenheiten, bei denen plötzlich ein deutsches Wort auftaucht. In dem Film "City Hall", der von der Korruption in New York im allgemeinen und in Brooklyn im besonderen handelt, sagt Al Pacino zu seinem Partner: "That's menschkeit!", was aus dem Jiddischen stammt und so viel bedeutet wie Klüngelwirtschaft.

Am Samstag brachten sie im Fernsehen eine moderne Inszenierung von Leonard Bernsteins Musical "Candide". Erfunden hat die Figur des Candide seinerzeit der alte Voltaire; Candide ist ein junger Adliger´, der auf einem Schloss in Westfalen aufwächst und sich mit dem absurden Anspruch auseinandersetzen muss, er lebe "in der besten aller möglichen Welten".

Der Regisseur im Fernsehen wandelte den Anspruch so ab: "He lives in the best of all possible worlds. He lives in the best of all possible schlosses." Am Gelächter des Publikums merkte man, dass das Wortspiel verstanden wurde.

Am Sonntag fand ich im Wirtschaftsteil der "New York Times" diese Überschrift: "What to Do About Wanderlust". Das Wort Wanderlust (ausgesprochen: wonderlast) bedeutet im Englischen ungefähr das Gleiche wie im Deutschen und weckt ähnliche Assoziationen.

Nur ging es in dem Artikel weder um Eichendorff noch um Schubert, Jack Kerouac oder den Deutschen Alpenverein - sondern um Karriereplanung. Ein "Karriere-Coach" gab Führungskräften Tipps, die mit 40 oder 50 Lust bekommen, noch einmal etwas ganz anderes zu machen. Wenn sie eben die "Wanderlust" packt.

Niemandem in Deutschland würde es einfallen, den Begriff in diesem Zusammenhang zu nennen. Aber eigentlich ist es gar keine schlechte Idee, oder?

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