Studium:Humboldts Wiederbelebung

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Wünschenswerte Veränderungen des Medizinstudiums aus Sicht der Vorklinik.

Bernd Sutor

Die neue Approbationsordnung für Ärzte aus dem Jahre 2002 bietet den Medizinischen Fakultäten eine ganze Reihe von Möglichkeiten, das Medizinstudium neu zu gestalten.

Dies gilt vor allem für den zweiten, also den klinischen Studienabschnitt.

Viele Fakultäten haben diese Möglichkeiten genutzt, und ich glaube sagen zu können, dass die LMU München mit dem MECUM-LMU-Konzept eine Reform umgesetzt hat, die wirklich zu einer deutlichen Verbesserung der klinischen Ausbildung führen wird.

Leider kann man dies für den ersten Abschnitt des Medizinstudiums, also für die ehemalige Vorklinik, nicht behaupten. Das liegt meiner Ansicht nach vor allem daran, dass man jede Reform der Vorklinik einerseits mit der Kapazitätsverordnung und andererseits mit der bundesweit gültigen Prüfungsordnung und den sich daraus ergebenden jeweiligen Rechtssprechungen in Einklang bringen muss.

Auf Grund eigener Erfahrungen muss ich feststellen, dass ein solches Unterfangen der Quadratur des Kreises gleichkommt. Wenn wir aber die Studierenden zeitgemäß und mit der notwendigen Qualität in den vorklinischen Fächern ausbilden wollen, dann muss man im Bereich der Vorklinik tiefgreifende Veränderungen vornehmen. Dies gilt auch für die Rahmenbedingungen, unter denen der vorklinische Unterricht gegenwärtig abläuft.

Eine effiziente Neugestaltung der Vorklinik erfordert zunächst die Klärung einer grundsätzlichen Frage. Es geht darum, wie die Organisationsform des Medizinstudiums in Zukunft aussehen soll. Will man Lehre und Forschung trennen und Medizinschulen bilden, in denen die Studierenden nach Gegenstandskatalogen lernen, die in bestimmten Zeitabständen mehr oder weniger aktualisiert werden? Oder will man eine universitäre, wissenschaftlich orientierte Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte mit Dozentinnen und Dozenten, die aktiv lehren und forschen?

Vielleicht verwundert es, dass ich diese Frage aufwerfe. De facto ist es aber so, dass die vorklinischen Bereiche der Medizinischen Fakultäten durch sehr hohe Studentenzahlen bei gleichzeitiger Reduktion des Lehrpersonals, durch weitgehende organisatorische Vorschriften der Approbationsordnung, durch rigide Gegenstandskataloge sowie durch das Korsett der Kapazitätsverordnung immer mehr in die Richtung einer Medizinschule gedrängt werden.

Ich denke aber, dass die Studierenden sehr früh während ihres Studiums erfahren und begreifen müssen, dass die Medizin ein äußerst dynamisches Fach ist.

"Was heute Allgemeingut ist, war gestern Wissenschaft", hat der Nobelpreisträger Niels Bohr über die Physik gesagt.

Dies gilt ohne Einschränkungen auch für die Medizin. Und weil das so ist, müssen die Studierenden frühzeitig lernen, auf welche Weise wissenschaftliche Daten gewonnen werden, wie man kritisch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgeht und wie man sie in das bestehende Wissensgebäude einfügt.

Die Studierenden müssen lernen, dass das, was in den Lehrbüchern steht, nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern bestenfalls ein Abbild des augenblicklichen Wissenstandes. Zum Beispiel kann man in den neuesten Auflagen der Lehrbücher für Anatomie, Biochemie und Physiologie nachlesen, dass sich Nervenzellen im Gehirn von Erwachsenen nicht neu bilden können.

Dieses Dogma ist aber vor kurzem heftig erschüttert worden, und man denkt in der Forschung bereits über Möglichkeiten nach, wie die sogenannte adulte Neurogenese zur Behandlung von degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems nutzbar gemacht werden kann.

In ihrer praktischen Tätigkeit werden die Ärztinnen und Ärzte also ständig mit neuen Diagnosemöglichkeiten und Therapiekonzepten konfrontiert. Um damit umgehen zu können, brauchen sie eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung, die ihnen vor allem die Dynamik des Faches Medizin vermittelt.

Ich bin der festen Überzeugung, dass für eine solche Aufgabe nur solche Personen befähigt sind, die Lehre und Forschung gleichermaßen aktiv betreiben. Deshalb darf man in der medizinischen Ausbildung Forschung und Lehre nicht trennen. Von Beginn des Studiums an müssen die Studierenden von Dozentinnen und Dozenten unterrichtet werden, die in der biomedizinischen Forschung aktiv tätig sind.

Setzt man die Einheit von Forschung und Lehre voraus, dann kann man im nächsten Schritt die Aufgaben, die die vorklinischen Einrichtungen zu erfüllen haben, formulieren.

Diese Aufgaben sind:

1. die wissenschaftliche Ausbildung der Studierenden in den medizinischen Grundlagenfächern, vor allem in Anatomie, Biochemie und Physiologie,

2. Forschung im biomedizinischen Grundlagenbereich,

3. Rekrutierung und Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten als wissenschaftlicher Nachwuchs für die Vorklinik.

Ich möchte diese drei Aufgabenbereiche nicht in eine Rangfolge einordnen. Sie sind gleichermaßen wichtig. Dennoch will ich auf den dritten Punkt kurz eingehen: Während der letzten Jahre ist es nicht gelungen, ausreichend medizinisch ausgebildeten Nachwuchs für Forschung und Lehre im Bereich der Vorklinik zu gewinnen.

Die Situation ist heute so, dass viele Dozentinnen bzw. Dozenten der Vorklinik Biologie, Chemie oder Physik studiert haben, also nicht auf eine klinische Ausbildung zurückgreifen können. Sie müssen sich das klinische Wissen "anlesen". Wenn aber, wie von der neuen Approbationsordnung gefordert, klinische Inhalte vermehrt in den Unterricht der Vorklinik mit einbezogen werden sollen, dann wäre eine Zunahme des Anteils an klinisch ausgebildeten Dozenten und Dozentinnen wünschenswert. Praktische Erfahrung in klinischer Medizin kann man nicht durch das Lesen von klinischen Lehrbüchern ersetzen.

Fragt man sich, warum Ärztinnen und Ärzte keine Karriere im vorklinischen Bereich anstreben, kommt man schnell zu dem Problem der Rahmenbedingungen für Lehre und Forschung in der Vorklinik. An erster Stelle ist hier das Missverhältnis zwischen der Anzahl an Dozentinnen und Dozenten auf der einen Seite und der Anzahl an Studierenden auf der anderen Seite zu nennen. Unterschiedliche Quellen geben dafür unterschiedliche Verhältnisse an. Sie variieren zwischen 1:60 und 1:80. Da solche Zahlen aber meiner Ansicht nach wenig aussagen, möchte ich Ihnen mittels eines Beispiels einen Eindruck von diesem Problem vermitteln:

Aus der neuen Approbationsordnung ergibt sich, dass zwei Lehrstühle des Physiologischen Instituts der LMU München jedem Studierenden 72 Stunden Seminarunterricht verpflichtend anbieten müssen. Seminarunterricht hat entsprechend der Approbationsordnung mit einer Gruppengröße von maximal 20 Studierenden zu erfolgen.

Bei einer durch die Kapazitätsverordnung festgelegten Semesterstärke von 740 Studierenden ergeben sich 37 Parallelgruppen und damit 2664 zu unterrichtende Seminarstunden. Diese werden auf zwei Semester aufgeteilt, so dass pro Semester 1332 Stunden Seminar abzuhalten sind. Bei einer Semesterdauer von 14,5 Wochen müssen also pro Woche 92 Seminarstunden unterrichtet werden. Den beiden Lehrstühlen stehen im Augenblick 8 habilitierte Lehrpersonen zur Verfügung.

Das bedeutet: Jede habilitierte Lehrperson muss 11,5 Stunden Seminarunterricht pro Woche abhalten. Das Lehrdeputat für Professorinnen und Professoren beträgt 9 Stunden pro Woche. Neben den Seminarstunden gibt es noch Vorlesungen und Praktika, die ebenfalls zum Teil von Habilitierten betreut werden.

Man darf zudem die notwendige Zeit für die Vorbereitung des Unterrichtes und für die Betreuung von Studierenden während des Semesters nicht vergessen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass während der Unterrichtszeit kaum Zeit für die Erfüllung der Dienstaufgabe Forschung bleibt, da ca. zwei Drittel der wöchentlichen Arbeitszeit für Unterricht aufgewendet werden müssen.

Diese Situation, die kein Einzelfall ist, entsteht durch das Zusammenwirken der neuen Approbationsordnung, Teil 1. Studienabschnitt, mit der Kapazitätsverordnung und der gegenwärtigen schlechten Personalsituation in den vorklinischen Instituten.

Vor allem die Kapazitätsverordnung, die ich für ein Relikt aus den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts halte, erweist sich als Reformbremse. Zum Beispiel fordert die neue Approbationsordnung die sogenannte vertikale Verzahnung. Das bedeutet, klinische Inhalte sollen in der Vorklinik unterrichtet werden, und andererseits soll man im Rahmen des klinischen Unterrichts vorklinische Inhalte erneut aufgreifen.

Die Idee war, dass klinische Dozentinnen und Dozenten Unterricht in der Vorklinik übernehmen und vice versa. Nach der Kapazitätsverordnung muss aber Unterricht von klinischen Dozentinnen und Dozenten in der Vorklinik als Lehrimport betrachtet werden, was zur Freisetzung von Lehrdeputat des vorklinischen Unterrichtspersonals führt.

Die Konsequenz wäre eine Erhöhung der Zulassungszahl. Unterricht von vorklinischem Lehrpersonal in der Klinik kann nach geltender Rechtssprechung als "unzulässige Niveaupflege" ausgelegt werden, also als Vernichtung von vorklinischem Lehrdeputat, was ebenfalls - nach einem entsprechenden Gerichtsverfahren - mit Sicherheit zu einer Erhöhung der Zulassungszahl führen würde.

An diesem Beispiel zeigt sich, wie die Kapazitätsverordnung und die entsprechende gegenwärtige Rechtsprechung jede Reform in der Vorklinik erschweren, wenn nicht gar zunichte machen. Ich denke, eine Verordnung, die den juristischen Begriff "unzulässige Niveaupflege" kennt, und das in einer Zeit, in der ständig von Elite-Universitäten und Exzellenz-Initiativen geredet wird, sollte abgeschafft oder zumindest tiefgreifend überarbeitet werden.

Für eine sinnvolle Reform der Vorklinik ist also eine deutliche Verbesserung des Verhältnisses Lehrpersonal zu Studierenden notwendig. Hierfür gibt es die Alternativen: Verbesserung der Stellensituation in den vorklinischen Instituten oder Absenken der Zulassungszahlen für das Medizinstudium oder eine Mischung aus beiden.

Es gibt für jede der Alternativen gute Argumente, aber auch gute Gegenargumente, so dass ich hier keine Lösung vorschlagen kann. Sicher ist nur, dass es im Augenblick in der Vorklinik sehr schwer ist, exzellente Leistungen in der Lehre und in der Forschung zu erbringen.

Wie ich bereits angedeutet habe, halte ich die Reform der Vorklinik, so wie sie in der neuen Approbationsordnung festgeschrieben wurde, für nicht gelungen. Man hat die Anzahl der verpflichtenden Seminarstunden um 154 Stunden pro Studierenden erhöht, einen zusätzlichen Leistungsnachweis im Fach Medizinische Psychologie und Soziologie und ein Wahlpflichtfach, dessen Sinn nicht leicht erkennbar ist, eingeführt und den Modus der mündlichen Prüfungen so verändert, dass die Dozentinnen und Dozenten nun einen deutlich größeren Teil der vorlesungsfreien Zeit dafür aufwenden müssen.

Man hat aber versäumt, das Fächerspektrum der Vorklinik neu zu überdenken. Fächer wie die Berufsfelderkundung oder die Medizinische Terminologie sollten aus dem Spektrum entfernt werden. Im Falle der Medizinischen Terminologie muss man von den Studierenden Eigeninitiative verlangen, wie das in anderen Studienfächern, zum Beispiel in der Biologie im Bereich der systematischen Zoologie und Botanik, auch der Fall ist.

Des weiteren muss man sich überlegen, ob es Sache der Hochschulen ist, Grundwissen in Biologie, Chemie und Physik zu vermitteln. Der Kenntnisstand in diesen Fächern ist bei Studienanfängern sehr heterogen, um es vorsichtig auszudrücken.

Ein ausreichendes Grundwissen in diesen Fächern ist aber eine conditio sine qua non für das Verständnis der medizinischen Grundlagenfächer Anatomie, Biochemie und Physiologie. Für die Vermittlung von biologischen, chemischen und physikalischen Grundlagen muss während der ersten beiden Studienjahre viel Zeit bereitgestellt werden, die man eigentlich für weiterführende medizinische Lehrveranstaltungen, für Eigenstudium oder wissenschaftliche Laborpraktika besser nutzen könnte. Es stellt sich also hier die Frage nach den Zulassungskriterien zum Medizinstudium.

Man hat mich gebeten, hier wünschenswerte Änderungen des Medizinstudiums aus Sicht der Vorklinik vorzutragen. Wünsche sind ihrem Wesen nach eigentlich Maximalforderungen, das Wort "Wünsche" klingt nur etwas netter. Ich glaube, für eine effiziente Reform der Vorklinik kann es hilfreich sein, solche Maximalforderungen einmal zu formulieren:

Ich wünsche mir also eine Vorklinik, in der der Humboldtsche Grundsatz von der Einheit von Forschung und Lehre gilt. Die für Forschung und Lehre ausgebildeten Dozentinnen und Dozenten stehen aktiv in der Forschung und haben genügend Zeit, eine adäquate Anzahl an Studierenden intensiv zu betreuen.

Die Studierenden werden in die Grundlagenfächer der Medizin Anatomie, Biochemie und Physiologie zunächst systematisch, später fächerübergreifend und organzentriert unter Einbeziehung klinischer Inhalte eingeführt. Der Lehrstoff umfasst auch Grundlagen aus den Bereichen der allgemeinen Pathologie, der allgemeinen Mikrobiologie und der allgemeinen Pharmakologie.

Gleichzeitig wird den Studierenden die Dynamik des Faches Medizin durch weiterführende wissenschaftliche Seminare und Laborpraktika verdeutlicht. Parallel dazu erfolgt ein langsames Heranführen der Studierenden an den Patienten. Hier könnte der sogenannte Longitudinalkurs des MECUM-Konzeptes der LMU München als Modell dienen. In der Approbationsordnung werden die bürokratischen Vorschriften weitgehend gestrichen; die Kapazitätsverordnung gibt es nicht mehr.

Die Fakultäten haben freie Hand bei der Gestaltung des Curriculums. Es gibt einen bundesweit verbindlichen Gegenstandskatalog, der allerdings nur mit Minimalanforderungen den Stoffrahmen absteckt. Die zentralen Multiple-Choice-Prüfungen werden abgeschafft, da sie die Studierenden zu einem Lernverhalten verleiten, das ausschließlich passives Wissen fördert. Die 1. Ärztliche Prüfung erfolgt an den Fakultäten in schriftlicher und mündlicher Form.

Im Gegenzug für soviel Freiheit müssen sich die vorklinischen Einrichtungen regelmäßigen externen Evaluationen unter Beteiligung von ausländischen Gutachtern unterziehen, wobei die Gesamtleistung in Lehre und Forschung beurteilt wird. Die staatliche Mittelvergabe erfolgt weitgehend leistungsorientiert. Die Attraktivität des Arbeitsplatzes Vorklinik wird durch Abschaffung der 12-Jahres-Regel und durch Einführung des Tenure-Track-Systems gesteigert, damit es möglich wird, exzellenten Nachwuchs für die Vorklinik zu rekrutieren.

Wie gesagt, es handelt sich hier um einen Wunsch, vielleicht sogar um eine Utopie. Es wäre aber bereits ein Fortschritt, wenn man den einen oder anderen Aspekt dieses Wunsches in die Realität umsetzen könnte. Es wäre ein Anfang.

In diesem Sinne schließe ich mit einem Wort von Georg Christoph Lichtenberg: "Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll."

Professor Dr. Bernd Sutor ist Kommissarischer Vorstand des Instituts für Zelluläre Physiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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