Stottern:Die schlimme Angst vor dem L

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Furcht vor Menschen und Buchstaben - und die Hoffnung, dass die Wörter irgendwann flüssig kommen: Wie Stottern das Leben beeinflusst und ob man es heilen kann.

Sarina Märschel

Er versteckt das Gesicht hinter den Händen und dreht den Menschen, die schräg unter ihm in langen Stuhlreihen sitzen, den Rücken zu. Der junge Mann auf der Bühne - blonde, strubbelige Haare, Hose auf Halbmast, knallblaues Muskelshirt - hat Angst. Er hat ganz fürchterliche Angst davor, seinen Namen zu sagen.

Stotter-Therapie am Del-Ferro-Institut. Von den Kindern in Deutschland stottern etwa fünf Prozent. Erwachsene Stotterer in Deutschland gibt es etwa 800.000. (Foto: Foto: Del Ferro Institut)

Doch Ingrid Del Ferro lässt nicht locker. "Wie heißt du?", fragt sie ihn vor dem Publikum im Münchner Kulturzentrum Gasteig. "Ssssss...." sagt der junge Mann."Ssssss...ebastian".

Ingrid Del Ferro wirbt hier für ihren zehntägigen Intensivkurs gegen Stottern. Für 1650 Euro soll das Stottern der Vergangenheit angehören. Gekommen sind Eltern mit Schulkindern, die keinen Satz flüssig herausbringen und stotternde Männer und Frauen. Sie alle sind verzweifelt auf der Suche nach Hilfe.

Negative Gefühle gegenüber dem Sprechen

Für die Betroffenen ist das Reden oft eine Tortur. Stottern bedeutet, dass der Redefluss von Blockaden ("------Block"), Wiederholungen von Wortteilen ("k-k-k-kalt") oder Dehnungen ("wwwwarm") unterbrochen ist. Weil das Sprechen dadurch so anstrengend wird, verkrampft sich häufig die Gesichtsmuskulatur, und Kopf, Arme und Oberkörper zucken beim Reden. Stotterer wissen genau, was sie sagen möchten - aber es gelingt ihnen einfach nicht, die Worte störungsfrei über die Lippen zu bringen. Ein Bündel aus negativen Gefühlen gegenüber dem Sprechen, Angst und Vermeidung, Anstrengung und Frustration halten dann das Stottern aufrecht oder verstärken es noch.

Winston Churchill, Isaac Newton und Marilyn Monroe haben gestottert - aber das ist nur ein schwacher Trost für die vielen Kinder, die in der Schule gehänselt werden und die Geschäftsmänner, die im Job keiner richtig ernst nehmen will.

Fünf Prozent aller Kinder stottern zunächst. Vier Fünftel von ihnen reden bis zur Pubertät aber wieder flüssig. Bislang lässt sich nicht vorhersagen, warum einige Kinder das Stotttern wieder verlieren und andere nicht. Von den erwachsenen Menschen in Deutschland stottern etwa 800.000. Das entspricht etwa einem Prozent der Bundesbürger - und damit dem weltweiten Durchschnitt. In allen Ländern und Kulturen gibt es etwa den gleichen Prozentsatz an Menschen mit solchen Sprechstörungen.

Keine psychischen Ursachen

Dass überall auf der Welt gestottert wird, ist ein zusätzlicher Beleg für die Annahme, dass es Menschen gibt, denen die Veranlagung zum Stottern angeboren ist. Stotternde Menschen haben im Vergleich zu nichtstotternden etwa dreimal häufiger Verwandte, die ebenfalls stottern.

Darüber, wo Stottern herkommt, ist bislang aber insgesamt wenig bekannt. Neben der Veranlagung spielen wohl viele Einflüsse aus dem körperlichen, dem sprachlichen und dem sozialen Bereich bei der Entstehung eine Rolle.

Fest steht aber, dass die Sprechstörung keine psychischen Ursachen hat - Schockerlebnisse können höchstens als Auslöser auftreten. Falsch ist auf alle Fälle auch, dass die Kinder deshalb stottern, weil sie schneller denken als sie sprechen, Aufmerksamkeit erzielen wollen oder eine träge Zunge haben.

"Das ist Augenwischerei!"

Auf der Bühne drückt Ingrid Del Ferro nun Sebastian die Hände auf die Rippen. Nach ihrer Anweisung atmet er ein und aus, "so, als würdest du eine Kerze auspusten". Und dann sagt Sebastian seinen Namen, sein Alter, seinen Wohnort - ohne auch nur einmal zu stolpern. Del Ferro sagt, das liege daran, dass durch den Druck auf die Rippen das Zwerchfell eine flüssige Aufwärtsbewegung macht und damit das Stottern unmöglich ist. Und dann sagt Del Ferro noch, dass durch ihre Methode jeder, der stottert, sein Stottern überwinden kann. Jeder. Die Betroffenen müssten nur genügend Disziplin mitbringen, um die richtige Atemtechnik zu erlernen und so letztendlich das Ziel zu erreichen, dass sich das Zwerchfell immer flüssig bewegt.

"Das ist Augenwischerei!", sagt Georg Thum von der Stotterberatungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München über Del Ferros Heilungsversprechen. Ab einem gewissen Alter, im Schnitt etwa ab 14 Jahren, könne Stottern nur noch sehr selten völlig verschwinden. Ehemalige Patienten von Del Ferro hätten dann zusätzlich zu ihrem Stotterproblem noch schlimme Versagensgefühle, wenn die Therapie nicht anschlage und es zu Rückfällen komme. "Man bürdet den Betroffenen damit eine zusätzliche Last auf. Ich finde das unverantwortlich."

Im zweiten Abschnitt: Wie man einen guten Stottertherapeuten findet und wie es sich anfühlt, nach 42 langen Jahren flüssig zu sprechen.

Seriöse Stottertherapeuten würden ehrlich mit der Rückfallproblematik umgehen. Ein guter Therapeut, sagt Thum, gibt kein Heilungsversprechen. Bei der Wahl des Therapeuten sollte man seiner Meinung nach außerdem darauf achten, dass er seine Methoden begründen und seine Kompetenz durch Fortbildungen belegen kann. Ingrid Del Ferro hat im Übrigen keine klassische Ausbildung zur Sprachheilpädagogin gemacht, sondern hat ihr Wissen von ihrem Vater Leonard Del Ferro erworben, einem Opernsänger, Gesangspädagogen und dem Gründer des Instituts.

Im besten Fall, sagt Thum, arbeitet ein Stottertherapeut methodenkombiniert - das bedeutet, dass er mit dem Stotterer sowohl neue Sprechtechniken einübt als auch daran arbeitet, dass er das Stottern akzeptiert. Laut Thum ist es eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, sein Stottern zu kennen und langsam die Angst davor zu verlieren.

Sprachheilpädagoge Thum warnt davor, zu lange abzuwarten, ob die Kinder ihr Stottern von alleine wieder verlieren. Er empfiehlt Eltern, deren Kinder Sprechunflüssigkeiten haben, nach spätestens einem halben Jahr einen Therpeuten aufzusuchen. Denn je früher die Therpie beginnt, desto größer ist die Chance, dass das Kind später nicht mehr stottert.

Im Streit immer unterlegen

Bei der Werbeveranstaltung für die Del-Ferro-Therapie tritt nun Ullrich Sigwanz auf die Bühne, ein hochgewachsener Informatiker, der eloquent und flüssig aus seinem Leben berichtet. Vor einem halben Jahr belegte er einen Kurs am Del-Ferro-Institut, seitdem stottert er nicht mehr - davor hatte Sigwanz 42 Jahre lang Angst vor Buchstaben, besonders vor dem "L". Er fürchtete sich davor, in der Schule drangenommen zu werden, später fühlte er sich im Streit seiner Frau immer unterlegen und konnte Kollegen und Geschäftspartnern in Diskussionen nichts entgegensetzen, obwohl er über alle Fachkenntnis verfügte.

"Als Kind wollte ich kein Leinsamenbrot für meine Tante einkaufen, weil ich Angst vor dem L hatte, solche Vermeidungsstrategien waren später Teil meines Lebens", erzählt der heute 47-Jährige. Er wurde von einem Logopäden zum nächsten geschickt. Später versuchte er, das Stottern mit Pyschotherapie loszuwerden - vergeblich. Als er nun vor einigen Monaten eine Sprechtechnik fand, mit der er flüssig reden kann, "war das für mich, wie wenn jemand in einem muffigen Raum die Fenster öffnet. Ich habe keine sprachlichen Grenzen mehr."

Bei vielen Stotterern verschwinden die Sprechprobleme jedoch nie völlig. Dann sind die Betroffenen auch darauf angewiesen, dass ihre Gesprächspartner angemessen reagieren. Aber wie redet man richtig mit jemandem, der stottert? "Ja nicht sagen: Atme mal! Sprich langsam!", sagt Stottertherapeut Thum. "Und auf keinen Fall die Sätze ergänzen oder wegschauen, das findet der stotternde Gesprächspartner belastend." Am meisten hilft man dem Stotternden, wenn man ihm weiter in die Augen schaut und in Ruhe abwartet, bis er seinen Satz beendet hat.

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