Stilkritik: die Kunstszene:Lächeln nur im Notfall

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Die Kunstszene hat ihre ganz eigenen Stil- und Spielregeln. Ein aktuelles Lexikon - anlässlich der Art Basel Miami Beach 2008.

Eva Karcher

Gespannt wartet die Szene auf die letzte zeitgenössische Kunstmesse des Jahres. Wird die Art Basel Miami Beach (ABMB) dem Markt einen drastischen Einbruch bescheren? Als Stimmungsaufheller gegen das heimliche Zittern hier das "Art-Chic-ABC".

Wer hierher kommt, hat den Durchblick. Zumindest sollen die anderen das glauben. Das richtige Auftreten hilft dabei. (Foto: Foto: artbaselmiamibeach.com)

A = Art Basel Wenn dort die Zulassung für Galeristen einer Lizenz zum Geld drucken gleicht, ist das Ambiente im Betonrondell mit Innenhof zweitrangig. Mehr Flair bieten die ehrgeizigen jüngeren Konkurrenten, allen voran die Schwestermesse ABMB (4. bis 7. Dezember) im flamingofarbenen Florida. Mit Nomaden-Exzentrik im Zelt lockt die Londoner Frieze Art Fair in den Regent's Park, und die Pariser Fiac spielt ihren mondänen Esprit im Grand Palais mit angrenzendem Tuilerien-Garten aus.

B = Black Wer A sagt, meint derzeit O wie Obama. Kein Zufall, dass Werke von Künstlern wie Adrian Piper, Kara Walker, Lorna Simpson, Renée Green, David Hammons, Glen Ligon, Isaac Julien und in der jüngeren Generation, Bilder der Maler Wangechi Mutu und Adam Pendleton und Zeichnungen von Marc Brandenburg verstärkt begehrliche Blicke auf sich ziehen. Ebenso wie sie selbst als Vernissagenstars: die Männer in granitgrauen Nadelstreifenanzügen mit weißem Hemd, den oberen Knopf offen, die Mädels bunt, ein Burberry-Käppi auf den schwarzgeflochtenen Afrolocken.

C = Crystal Nicht nur strömender Champagner, auch kristallines Pulver beschleunigt das Durchhaltevermögen der Szene. Schließlich beginnen Eröffnungen erst nach Sonnenuntergang, Essen wird kurz vor Mitternacht serviert, und danach soll man bis zum Morgen abtanzen? Naja. Mit dem Zeug eben, das Lastwagenfahrer und Kreative wach hält.

D = Design Kunst ist Leidenschaft, Design egal. Diese Maxime genügte solange, bis Geschmacksfee Ambra Medda und Immobilieninvestor Craig Robbins auftauchten und 2005 die Design Miami gründeten. Seitdem bessern Sammler ihre Häuser nicht nur mit Kunst von Ed Ruscha bis Aaron Young auf, sondern auch mit Lampen der Campagna-Brüder, Pyramidenmöbeln von David Adjaye und Raumteilern von Liam Gillick.

E = Emirate Laufsteg eines neuen Globallooks. Schönheiten undefinierbaren Alters mit Kohleaugen stöckeln in schwarzen Chadors und farbigen Abayas, verziert mit glitzernden Swarovski-Steinen, auf den noch jungen Messen in Dubai und Abu Dhabi, vor und hinter ihnen schlendern Männer in hellen Dishdashas auf flachen Sandalen. Der Nachwuchs dagegen, meistens in London erzogen, bevorzugt puristisch fließende Eleganz, wie von Lanvin-Designer Alber Elbaz.

F = Fünfzehn Zentimeter Für fast alle Frauen im ästhetischen Gewerbe das höchste der Gefühle. Und ein Must-have bei Eröffnungen, egal wie qualvoll das lange Stehen sein mag. Schließlich kann man nur so, Manolo Blahnik, Christian Louboutin, Jimmy Choo und Nicholas Kirkwood sei Dank, stets Spitze sein, ob auf zehenfreien Highheels unter der Sonne Miamis oder in Plateaustiefeln bei klirrend kalten Moskauer Museumseinweihungen.

G = Glamour Gibt es eine Art Galeristinnen-Sammlerinnen-Chic? Oh ja! Schmale Silhouette in unifarbenen Spitzenkleidern, Peeptoes zu Gazellenbeinen, Baby-Doll-Kleidchen über Pucci-Leggings, riesige Halbedelsteine an den Händen und Ohren. Viel Haar, Pastell-Make-up und blutrote Lippen. Lächeln nur im Notfall, dann aber perlweiß kaltheiß und mit straffer Botox-Mimik.

H = Hotel Allein drei eröffnen zur ABMB: das vom Architekten Morris Lapidus inspirierte Fontainebleau, die Dependance des New Yorker Gansevoort und der Ableger des Mondrian in Los Angeles, gestaltet vom Niederländer Marcel Wanders. Der Krise trotzen sie, ähnlich wie die altbekannten Luxusressorts Delano und Setai, nonchalant wie immer mit Höchstpreisen.

I = In Peripherien sind die neuen Zentren. Die Avantgarde stammt aus Indien, dem Mittleren Osten, Afrika. Trendsetter sind Sammler wie Rosa de la Cruz und Martin Margulies aus Miami, der Hamburger "Dirty Jokes"-Spezialist Harald Falckenberg, der Pariser Galerist Enrico Navarra. Das ultimative Must-have: Individualismus, gemixt mit Traditionsbewusstsein.

J = Joplin, Jay Ist im Maßanzug mit schwarzer Hornbrille und rahmengenähten Schuhen einer der bestangezogenen und erfolgreichsten Galeristen. Außerdem mächtig modisch: die Amerikaner Larry Gagosian (eisgraue Schläfen, athletische Figur) und Gavin Brown (Hedi Slimane-Typ), der Österreicher Thaddaeus Ropac (klassisch-jugendlich in Tom Ford) und der Schweizer Iwan Wirth mit Hermes-Krawatten und Nadeln zu dunklen Hemden und hellen Anzügen.

K = Kultkünstler In den sechziger Jahren trugen sie Hut wie Joseph Beuys, stilisierten sich in den Siebzigern zum Malerfürsten wie Markus Lüpertz mit Totenkopfring und Goldknaufstock, traten dann wie Julian Schnabel in Seidenpyjamas auf, experimentierten schließlich wie Matthew Barney nackt mit Kletterseilen oder ließen sich wie Urs Fischer am ganzen Körper tätowieren. Und nun? Außer Jonathan Meese und Pipilotti Rist, die sich bohemiesk mit Wallehaar (er) und lachsfarben gepunktetem Anzug (sie) als Hippie-Revolutionär und Pulcinella verkleiden, bevorzugen Superstars wie Koons und Co. die bewährten Gentlemen-Uniformen des Erfolgs.

L = Laissez faire Wo sonst, wenn nicht in der Kunstszene, kann jeder tun und lassen, anbieten und verkaufen, loben und kritisieren, was und wen er will? Sich selbst erfinden und bewähren als Kurator und Künstleragent wie Hans Ulrich Obrist, Klaus Biesenbach, Nicolaus Schafhausen, Daniel Birnbaum oder Michael Neff? Kunst ist die Freihandelszone der Kreativität.

M = Mäzene Zur Zeit sehr weiblich und sehr fotogen. Grande Dame der Philanthropie ist die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz, gefolgt von der glamourösen Francesca von Habsburg, die Outfits von Balenciaga mag und mit ihrer Stiftung die aufregendsten Kunstproduktionen der Gegenwart realisiert. In der nächsten Generation brilliert Julia Stoschek nicht nur mit extravagantem Kurzhaar und erlesenem Garderoben-Understatement, sondern auch mit einer der international besten jungen Videokunst-Sammlungen im Düsseldorfer Privatmuseum.

N = Nada Nicht Nichts, sondern eine der unfassbar vielen Satellitenmessen, die sich - gut so! - selbst vom Markt-Lamento nicht verscheuchen lassen. Dieses Jahr außerdem in Miami: Pulse, Scope, artAsia, Aqua Art, Art Miami, Art Now Fair, Bridge Miami Wynwood, Full House Pool, Geisai, Red Dot, Sea Fair auf der Luxusyacht, Ink, Photo, Sculpt und sogar "The Artist Fair", für Künstler als Aussteller nach dem Motto "Do it yourself".

O = Out Chinesische Gegenwartskunst mit wenigen Ausnahmen wie Ai Wei Wei, Cai Guo Qiang, Cao Fei. Hype. Spekulanten ohne Seele. Schals im Sommer. Sneakers mit zweifarbigen Schnürsenkeln.

P = Pailletten Kaum eine Auktion, Messe, Ausstellung ohne Cocktailempfang oder Dinner-Party mit DJ. Hier die zwei abgefahrensten Events der jüngsten Zeit: Eröffnung des "Double Club" in London, vom Deutschen Carsten Höller für sechs Monate mit freundlicher Unterstützung der Prada-Stiftung als hybride Glitzerhöhle im "Kinshasa trifft East London"-Design gestaltet. Der "Metal Ball" von Performa (New Yorker Kunstorganisation, nicht der Kondom-Hersteller), bei dem Gastgeberin Roselee Goldberg Krönchen trug und Gäste wie Rufus Wainwright, US-Fotokünstlerin Cindy Sherman und ihr Musiker-Boytoy David Byrne um die Wette glänzten.

Q = Quintessentially VIP ist schon lange nicht mehr gleich VIP, und deshalb gibt es das Londoner Kunstberatungs- und Service-Unternehmen, das Insidern wie Neulingen je nach Vermögenslage Zugang bis in die innersten Zirkel der Szene verspricht.

R = Rekord / Rezession Die Anfangsbuchstaben verraten es: Das eine geht, wenn das andere kommt. Da müssen wir jetzt durch, und zwar so hübsch wie möglich.

S = Sponsor Es gibt sie noch, hurra! Nicht nur Audi, neuer Hauptförderer der ABMB, auch andere, durchaus krisengeplagte Unternehmen von der Deutschen Bank über BMW bis zu VW bleiben ihrem Engagement für die Kunst treu. Wichtig und richtig, in Europa den Staat als Haupt-Finanzier zu haben, doch ohne private Mittel geht es nicht mehr.

T = Taschen Visitenkarten der Frauen, und die Qual der Wahl wird immer größer. Geheimtipp: die neue "Reality Bag" von Puma, vom Schweizer Künstler John Armleder mit allen Zutaten versehen, die man zum Überleben braucht. Und ein Teil der Verkaufserlöse kommt, man höre und staune, der neuen Ausstellung der Miami-Megasammler Mera und Don Rubbell zugute.

U = Unisex Mode und Kunst mögen sich auch deshalb so, weil sie zusammen einfach viel mehr Spaß haben als allein. Deshalb gibt es von Prada über Hermès, Hugo Boss, Cartier, Chanel bis hin zu Dior und Louis Vuitton kaum noch ein Label, das den Androgyn-Appeal von Kunst und Kommerz nicht für erstrebenswert hielte.

V = Versteigerer Zündler der Gier und nun zerknirscht. Doch die drei Zampanos der zu Ende gegangenen Auktions-Hausse, Tobias Meyer von Sotheby's, Christopher Burge von Christie's und Simon de Pury von Phillips, müssen noch lange nicht das letzte Brooks-Brothers-Hemd versteigern.

W = Warhol Der Künstlergott, der das "Art-Shopping" erfunden hat. Sein Rat für Krisenzeiten: "Tu dasselbe wie jeden Tag" (aus POPism, Verlag Schirmer/Mosel, München).

X = X-Faktor Auch als "Axa"-Faktor bekannt. Er beschreibt die Basisfakten jenseits der Show: Versicherungen, Transporte, Aufbau, Abbau, Reparatur, Restauration, Lager, Leihverträge. Elementar.

Y = Yes we can Die Welt retten und sich von der Kunst retten lassen.

Z = Zac Posen Liebling von Hollywoodstars und Kunst-Girls. Denn die Roben des US-Designers verzaubern mit romantischem Realismus.

© SZ vom 29.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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