Starkoch Blumenthal:Gefühle gehen durch den Magen

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Heston Blumenthal zählt zu den innovativsten Köchen - ein Restaurant-Besuch mit kulinarischem Budenzauber.

Patricia Bröhm, London

Es gibt Gäste, die stoßen bei Heston Blumenthal an ihre Grenzen. Etwa die ältere Dame am Nebentisch. Vor dem Hauptgang wird ihr eine pinkfarbene Muschel gereicht, in der ein iPod verborgen ist. Der Kellner fordert sie auf, die Ohrstöpsel anzulegen, doch sie weigert sich: Das sei ihr zu albern.

Eine typische molekulare Ess-Skulptur im Blumenthal-Restaurant. (Foto: Foto: oh)

Das Angebot ist typisch für Blumenthals Restaurant "The Fat Duck" in Bray bei London. Wer den iPod benutzt, hört Meeresrauschen und die Schreie der Möwen. Dann wird das Gericht mit dem Namen "Sound of the Sea" serviert, in einer gläsernen Box, deren Boden mit echtem Sand gefüllt ist. Darüber eine weitere Glasscheibe, auf der das Essen angerichtet ist. Es soll die Erlebniswelt eines Strandspaziergangs kulinarisch wiedergeben: Ein Arrangement aus Tapiocamehl (statt Sand), aufgeschäumtem Meeresfrüchtefond (steht für die Brandung), Algen, eine Auster, eine Schwertmuschel und ein Seeigel. Schließt man die Augen, dann meint man die salzige Meeresluft riechen zu können.

Blumenthal bezeichnet die sinnliche Erfahrung als "das emotionalste Gericht, das ich je serviert habe". Und es ist auch eine Art Erlebnisgastronomie. "Menschen gehen ins Theater oder ins Kino, um Gefühle zu erleben", sagt der Küchenchef. "Dasselbe sollte auch für ein Restaurant gelten."

Bevor er ein neues Gericht auf die Karte nimmt, tüftelt er monatelang in seiner Entwicklungsküche. Doch nicht nur ein Team von rund 40 Köchen (auf ein Platz im Restaurant kommt ein Koch) unterstützt ihn. Noch lieber lässt er sich von Wissenschaftlern, Parfümeuren und Sound Designern inspirieren. So ging der Entwicklung von "Sound of the Sea" die Forschungsarbeit mit einem Entwicklungspsychologen der Universität Oxford voraus. Bei einer Testreihe fanden sie heraus, dass beim Hören von Meeresrauschen eine Auster nicht nur als schmackhafter empfunden wurde, sondern auch als salziger.

Budenzauber muss man mögen

Ob die Gäste solchen Aufwand zu würdigen wissen? Heute mehr denn je, meint Blumenthal, der in den Anfangsjahren von "The Fat Duck" öfters erleben musste, dass Gäste nach dem Studium der Speisekarte aufstanden und wortlos das Restaurant verließen. Auch heute gilt: Auf einen gewissen kulinarischen Budenzauber sollte man sich einlassen, sonst hat man keinen Spaß an der Sache.

Kaum hat der Gast Platz genommen, geht die Show los. Das beginnt mit einem Grüntee-Schaum, der am Tisch im qualmenden Stickstoffbad in eine weiße Sphäre verwandelt wird und als Ganzes in den Mund genommen werden soll. Es folgt ein Kügelchen Senfeiscreme, das im Teller mit einer pinkfarbenen Rotkohl-Gazpacho übergossen wird. Der Grüntee neutralisiert den Gaumen und stimmt ihn ein auf weitere Genüsse.

Der Autodidakt Blumenthal jobbte als Verkäufer von Fotokopiergeräten und als Buchhalter, bevor er 1995 sein Restaurant im Dörfchen Bray bei London eröffnete. Das Kochen hat er sich mit Hilfe des Larousse Gastronomique und bei Besuchen in französischen Sternelokalen beigebracht. Spätestens seit er 2004 vom Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet wurde, gilt er in seiner Heimat als Star. Der Mann, der Kirschkerne spalten lässt, um an das darin enthaltene Benzaldehyd zu kommen, mit dessen Bittermandelaroma er seine Foie Gras mit Kirschkompott aufpeppt, ist Ehrenmitglied der Royal Society of Chemistry und Ehrendoktor der Universität Reading.

Der 42-Jährige, der neben Ferran Adrià als Hauptvertreter der Avantgarde-Küche gilt, wird oft in die Schublade der Molekularküche gesteckt. Er sieht den Einsatz der Chemie nüchtern: "Für mich ist das ein Werkzeug wie die Küche. Wenn wir puristisch sein wollen, müssten wir immer noch über dem offenen Feuer kochen." Spannender als die moderne Technologie findet er derzeit die Rezepte der Vergangenheit. Mit einer Gruppe von Historikern arbeitet er daran, Gerichte vom Hof Heinrichs VIII. nachzuempfinden.

Aber was ist mit Blumenthals Glamour-Dessert, Rührei-mit-Speck-Eiscreme, die am Tisch mit dramatisch durchs Restaurant waberndem flüssigem Stickstoff zubereitet wird? Hat er bei Mrs. Marshall nachgelesen, der berühmtesten Köchin des viktorianischen Zeitalters. Sie empfiehlt in einem Buch von 1901, Eiscreme mit Stickstoff zuzubereiten. Alles schon mal dagewesen.

© SZ vom 07.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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