Sport:Die Mär vom Muskel-Stretching

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Ob vor oder nach dem Sport, sekunden- oder minutenlang: Dehnen kann Muskelkater nicht verhindern. Sinnlos ist es dennoch nicht.

Martin Kotynek

Muskelkater entsteht, wenn sich der Muskel nach einer Überanstrengung verkrampft. So lautete die Lehrmeinung in den 1960er-Jahren. Einziges Mittel dagegen sei gründliches Dehnen, denn es würde die Durchblutung steigern und so den Krampf lösen. Seitdem wird allerorten fleißig gedehnt, obwohl seit 21 Jahren bekannt ist, dass Verkrampfungen keineswegs einen Muskelkater auslösen.

Auch die deutsche Nationalelf tut es: Dehnen und Strecken (Foto: Foto: dpa)

Robert Herbert von der Universität Sydney hat nun für die Cochrane Database of Systematic Reviews (Bd.3, 2007) zehn Studien überprüft, die den Zusammenhang zwischen Stretching und Muskelkater untersucht haben. Die Teilnehmer der Studien dehnten ihre Muskulatur vor oder nach dem Sport 40 Sekunden bis zehn Minuten lang. Der Physiotherapieforscher kam zu einem eindeutigen Ergebnis: "Dehnen vor oder nach dem Sport kann einen Muskelkater an den folgenden Tagen nicht verhindern."

Die Ursache für Muskelkater ist nach wie vor nicht geklärt. Die meisten Sportwissenschaftler vertreten aber die Theorie, dass Mikroverletzungen der Muskelfasern dafür verantwortlich sind. Dazu kann es kommen, wenn sich der Muskel zusammenzieht, während er von außen gestreckt wird, etwa beim Bergabgehen.

"Dehnen wird deutlich überschätzt", sagt Jürgen Freiwald, Bewegungswissenschaftler an der Universität Wuppertal. "Warum sollten die gerissenen Fasern denn heilen, wenn man beim Dehnen an ihnen zieht?" Vielmehr könnte sich starker Zug negativ auf die Heilung auswirken, sagt Freiwald.

Dehnen wird auch nachgesagt, es würde das Verletzungsrisiko verringern und athletische Leistungen verbessern - doch auch dafür gebe es keine wissenschaftlichen Beweise, sagt Freiwald: "Beim Stretching wird ein Schutzreflex ausgelöst, der die Kontraktion hemmt." Die Muskulatur sei daher weniger stark erregbar. Der genaue Mechanismus ist jedoch nicht bekannt, denn die Effekte des Dehnens sind kaum erforscht.

Auch Robert Herbert kritisiert, dass die überprüften Studien zwar "bemerkenswert übereinstimmend", jedoch von "fragwürdiger Qualität" seien. Da die Cochrane-Institute auf die methodische Qualität besonders Wert legen, finden sie in Studien häufig Mängel. In der Sportwissenschaft sei das aber ein generelles Problem, sagt Winfried Banzer von der Universität Frankfurt. "Die Methodologie der sportwissenschaftlichen Studiendesigns ist nach wie vor in der Entwicklung", so der Sportwissenschaftler.

Bis geklärt ist, wie sich Stretching genau auf die Muskulatur auswirkt, empfiehlt Arno Schmidt-Trucksäss, Sportmediziner an der TU München, nach dem Sport zu dehnen. "Nicht, um Muskelkater zu vermeiden, sondern um die Regeneration des Muskels zu fördern." Reizungen der Übergänge zwischen Muskeln und Sehnen würden so verringert und der Muskel könne früher wieder belastet werden.

© SZ vom 18.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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