Serie: Körperbilder (17):Krieg gegen sich selbst

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Erst schwindet der Realitätssinn, dann der Lebenswille: Wie eine Mutter damit umgeht, dass ihre Tochter magersüchtig ist.

Renate Meinhof

Wie sie da liegt, in ihrem Bett, erschöpft und lächelnd, Gallenoperation hinter sich, gut verlaufen, geht einem ein Wort durch den Kopf, das man widerstrebend nur in den Mund nimmt. Zu viel Pathos umrankt es, und Kriege haben es verdorben: Tapferkeit.

"Modeindustrie, Medien und Werbung produzieren ununterbrochen Bilder von extrem dünnen Models und makellosen, schlanken Schauspielerinnen." (im Bild: Model Eva Herzigova im Jahr 2002) (Foto: Foto: Reuters)

Und doch trifft dieses Wort es genau, Katharina Weber wirkt tapfer bei diesem Interview, das in einem Krankenhaus stattfinden muss. Das, was sie mit ihrer Tochter Susanne in den letzten zwei Jahren durchgemacht hat, hätte ohne Liebe und Tapferkeit, ohne Beratung und kluge Ärzte im Tod sein Ende gefunden. Denn im Grunde war es ein Krieg. Ein Krieg gegen den Körper.

"Magersucht (Anorexia nervosa) ist eine psychische Krankheit, die gefährlichste aller Essstörungen. Bis zu 600.000 Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren sind in Deutschland bedroht. Umfragen belegen, dass sich jedes vierte Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren zu dick fühlt, aber nur jeder achte Junge." *

Die Angst um das Leben von Susanne ist nicht fort, auch die Scham nicht, die Fragen und Gewissensbisse. Susannes Haare sind trocken und widerborstig noch immer, die Hände schuppig und gerötet, so wenig Fett wie sie zu sich nimmt. Aber: Sie isst. Es geht ihr besser, es sind kleine Erfolge, die Schutz brauchen. Katharina Weber will ihren richtigen Namen deshalb nicht in der Zeitung lesen.

Der erste Kollaps mit 17

"Wo fangen wir an?", fragt sie. Einfach am Anfang. Der Anfang. Das war ein verregneter Frühlingstag vor zwei Jahren. Susanne war knapp 17, als sie zum ersten Mal kollabierte. Sie krampfte, und Angstattacken rissen sie wie aus dem Nichts zu Boden. Der Notarztwagen brachte sie ins Krankenhaus. "Mein Gott, du verlierst deine Tochter", flüsterte die Mutter zu sich selbst.

Die Ärzte kamen zu keiner überzeugenden Diagnose, sie stellten Susanne nicht auf die Waage, und niemand wunderte sich über ihren knochigen Körper. Auch die Mutter nahm es nicht wahr. Oder wollte es nicht wahrhaben? Sie macht sich Vorwürfe, immer noch, dass sie es nicht gesehen hat. Und oft war sie den ganzen Tag lang weg, hat gearbeitet, eine schöne Karriere gemacht. War ihr Kind einsam, und sie hat es nicht bemerkt?

Susanne wird entlassen, die Angstattacken aber hören nicht auf. Ihre Tochter habe ständig in Panik gelebt, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, sagt die Mutter. Sie bringt ihr Kind zu einem Psychologen, jede Woche eine Sitzung. Der Psychologe bemerkt die Magersucht nicht. Susannes Zustand verschlechtert sich. "Dann endlich sah ich, dass meine Tochter immer dünner wurde", sagt Katharina Weber.

Ein Allgemeinmediziner ist es, der genauer hinschaut und zum ersten Mal die Mutter mit diesen zwei Worten konfrontiert: Anorexia nervosa. Nervös, ja, das passt doch zu den Angstattacken, denkt die Mutter zuerst, und nur langsam wird ihr klar, was für eine Krankheit da nach ihrer Tochter greift. Katharina Weber sagt: "Ich dachte, das ist die Krankheit, die nur die Models kriegen, weil sie so klapperdürr auf den Laufsteg sollen."

Aber das muss sich doch in den Griff kriegen lassen, alles kriegt man in den Griff. Die Mutter kauft eine Waage und sagt: "So. Ich nehme jetzt jede Woche ein Kilo ab, kann's vertragen. Aber du nimmst jede Woche ein Kilo zu." Wochen vergehen, die Mutter nimmt ab, und die Tochter nimmt auch ab. Sie wiegt bei ihrer Größe von einssechzig nun noch 36 Kilogramm. "Ich hätte mir ausrechnen können, wie lange es noch dauert", sagt Katharina Weber. Wie lange was dauert? "Bis sie tot ist."

(* Die kursivierten Zitate sind einer Expertenanhörung zum Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag "Hungern in der Überflussgesellschaft - Maßnahmen gegen die Magersucht ergreifen" entnommen.)

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Das Leiden an der Behandlung

"Bei der Magersucht handelt es sich nicht um eine vorübergehende pubertäre Phase. Die Auswirkungen der Krankheit sind ein Leben lang zu spüren: Jede Dritte erkrankt daran chronisch. Magersucht ist unter jungen Frauen die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeit: 10 bis 15 Prozent überleben die Auswirkungen der Krankheit nicht."

Ein Arzt überweist Susanne auf eine kinder- und jugendpsychiatrische Station. Die Mutter fühlt sich hilflos und ist selbst längst zu schwach, um einer Einweisung in die Psychiatrie etwas entgegenzusetzen. Susanne dreht durch, als sie davon erfährt, wirft sich auf den Boden, in die Pfützen auf der Straße.

Katharina Weber spricht von dem "Biest" in ihrer Tochter. Das Biest ist der kranke Anteil, der mit dem gesunden die Kämpfe ausficht, martialische Kämpfe müssen das sein. Das Biest ist es, das die Mädchen beschimpft: "Du fette eklige Sau, hör' endlich auf zu fressen!" Katharina Weber sagt: "Die Mädchen hören diese Worte, die sie selber gar nicht in den Mund nehmen würden. Das ist fast wie eine Art Schizophrenie." Heute weiß sie, was ihre Tochter durchgemacht hat, damals wusste sie nichts. Deshalb machte sie Fehler.

Die Psychiatrie war ein Fehler. Susanne stürzt wegen einer völlig falschen Behandlung in eine Depression. Sie wird unter Druck gesetzt. Nimmt sie nicht zu, werden Freiheiten gestrichen, Besuchszeiten verkürzt, die Privatsphäre eingeschränkt, Bücher weggenommen, CDs, das Strickzeug. So geht es an die vier Monate.

Einmal kommt die Mutter, findet ihr Kind, das sich hinter einem Schrank in die Ecke quetscht. Es ist der einzige Winkel, in dem sie nicht von Pfleger-Augen beobachtet werden kann. Susanne wird immer grauer, immer kleiner, so nimmt die Mutter es wahr. Am Ende hat sie keine Wünsche mehr, nicht einmal den, nach Hause zu kommen.

Die Mutter ist kraftlos, kann nicht mehr schlafen. Sie wünscht sich, das Herz bliebe ihr stehen. "Aber den Gefallen hat es mir nicht getan." Wie die Mädchen durch ihre Hölle gehen, sagt sie, so geht man durch seine Hölle.

Zu Tode gehungert

Durch den Hinweis eines Freundes findet Katharina Weber den Weg zu einer Beratungsstelle, einem gemeinnützigen Verein, der Essgestörten und deren Angehörigen Hilfe gibt. Hier erst lernt sie zu verstehen, was in ihrer Tochter überhaupt vorgeht. Hier bekommt sie eine Fachklinik genannt, die Susanne aufnimmt. Ein langer Prozess der Heilung beginnt. Abgeschlossen ist er nicht, auch wenn die Tochter die Klinik längst verlassen konnte.

In die Beratungsstelle geht die Mutter noch immer. Im vergangenen Jahr hat sich das Kind einer Frau aus ihrer Gruppe zu Tode gehungert. "Da hätten sie 15 Menschen verzweifelt weinen sehen können", sagt Katharina Weber. "Man versucht ja immer, diesen Gedanken zu verdrängen, dass es zum Tod führt."

"Modeindustrie, Medien und Werbung produzieren ununterbrochen Bilder von extrem dünnen Models und makellosen, schlanken Schauspielerinnen. Vor allem bei jungen Frauen bleibt dieses Schönheitsideal nicht ohne Folgen, auch wenn es nie alleiniger Auslöser einer Essstörung ist."

Nein, sie will sich nicht mehr die Schuldfrage stellen, und doch kommt diese Frage immer wieder wie ein ungebetener Gast, der sich auf seine Weise Einlass verschafft. In Träumen zum Beispiel, oder hier, im Krankenbett, wo der Körper hilfloser als sonst und zur Ruhe gezwungen ist. Sie sagt, dass sie eine "Diätenqueen" gewesen sei. Dass sie vieles ausprobiert habe, und mit Erfolg. Die Tochter hat das ja alles gesehen, hat ihre Mutter als eine Frau erlebt, die mit ihrem Körper nicht zufrieden war, für die Kalorien zum Thema wurden.

War das ein Fehler? "Ja, man macht als Eltern Fehler", sagt Katharina Weber, "aber andere Eltern machen auch Fehler, und deren Kinder werden nicht magersüchtig." Sie richtet sich auf und sagt: "Es ist doch schon toll, dass ich Ihnen das alles erzählen kann, ohne zu heulen." Sie sieht tapfer aus, wie sie da sitzt, aufrecht in ihrem Bett.

© SZ vom 29.05.2009/mmk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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