Schön doof:Unter Lichtgestalten

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Wenn es grau wird , sehnen wir uns nach dem Süden. Und träumen von einem zweiten Leben in der Sonne. Aber wenn dieser Wunsch Wirklichkeit wird, kann das übel enden.

Von Harald Hordych

Wenn es grau wird Mitte November, sehnen wir uns wieder nach dem Süden. Und träumen von einem zweiten Leben in der Sonne. Aber was passiert, wenn dieser Wunsch Wirklichkeit wird? Das kann übel enden.

Irgendwann in den zurückliegenden Tagen sind auch die letzten Blätter von den Bäumen gefallen. Wenn man nach Hause kommt, ist es dunkel. Wenn man aufsteht, ist es auch dunkel. Deutschland ist wieder eingekeilt von Kaltfronten und Sturmtiefs. Spätestens im November bin ich mir wieder sicher: Sobald die Rente beginnt, gibt es nur noch den Süden als Lebensrichtung. Zurück bleibt diese graue Asphalthölle, diese nasskalte Fröstelbude, diese schlappe Nebelshow. Deutschland ade!

Aber wohin? Mallorca, weil da schon so viele Deutsche sind? Hm. Südfrankreich? Viel Kultur, und das famose Essen! Andererseits muss man dort diese schwierige Sprache sprechen. Die spanische Mittelmeerküste? Das Leben ist günstig, das Wetter sicher, und man war ja schon mindestens zehnmal dort. Sicher, ganz schön weit weg. Kanarische Inseln? Die Azoren? Thailand? Ach, den genauen Ort und die genaue Finanzierung klären wir später. Nur weg!

So kriegt man auch diesen Winter klein, der Traum vom ewigen Sommer spendet Kraft gegen die Grippe. Zumal die Zahlen an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lassen: Laut Rentenversicherung ließen sich Anfang der 90er-Jahre noch 95 000 Deutsche ihre Rente ins Ausland überweisen. 2015 sind es schon mehr als 220 000. Können sich so viele sonnenhungrige Alte irren? Wenn ich jetzt an einem sehr dunklen Novemberabend darüber nachdenke, bestimmt nicht. Interessant allerdings, dass mehr von ihnen in die USA, in die Schweiz und nach Österreich ziehen als nach Spanien und Frankreich.

Vor Kurzem traf ich einen Mann, der zwei Jahre auf Mallorca gelebt hatte. Wieso hatte? Und wieso nur zwei Jahre? Der Mann war ein Künstler-Typ. Zu einem Star hat er es nicht gebracht, aber zu seriöser Selbstverwirklichung. Irgendwann hatte er die Finca für das ganze Jahr, seine Nachbarn waren Deutsche wie er: interessante Menschen mit dem gewissen Sinn für Kreativität. Zwei Jahre hielt er den Traum Süden aus, selbst im Januar und Februar oft bis 20 Grad. Jeden Abend saß er mit Freunden beim Wein, der Sonnenuntergang war fantastisch, daran konnte man sich nicht sattsehen, bis er sich dann doch komplett sattgesehen und sattgetrunken hatte. Das kann man allerdings auch anderswo erleben, wenn die ewig gleiche Ruhe, die ewig gleiche Community gleichgesinnter Althedonisten plötzlich zu einer Art Erholungshölle führen.

Der Bekannte floh, aber das will nichts heißen, viele fliehen nicht. Auf Formentera, wo die Gebenedeiten leben, die allein verstanden haben, wie schön diese stille, eigenbrötlerische Insel ist, schrien sie sich am Strand gegenseitig alle fünf Minuten an: Ist das nicht wun - der - bar?! Dieser Sand! Dieses schillernde Südseewasser! Ja, das ist es. Aber nach einer Woche Insel-Urlaub hätte ich ihnen den Sand am liebsten in den Mund geschaufelt.

Spätestens, wenn der Mai kommt, lache ich wieder über den sentimentalen Plan, in den Süden abzuhauen. Bis dahin fliehe ich nur in Gedanken.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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