Schön doof:Sitzen bleiben

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Illustration: Bene Rohlmann (Foto: N/A)

Warum nur muss heute jeder Applaus in Standing Ovations münden, fragt sich Max Scharnigg. Das ist doch eigentlich gar nicht besonders nett, sondern mehr der Versuch, neben dem Künstler auch das Publikum mal ein wenig ins Spiel zu bringen.

Neulich beim Weihnachtsoratorium in einer oberbayerischen Kirche: Nach dem letzten Ton herrschten noch zwei Sekunden Andacht, dann: Applaus! Und fast sofort standen dazu in der zweiten Kirchenreihe drei Menschen auf und erzeugten in ihrer Nachbarschaft eine kurze Irritation. Aber nein, sie wollten nicht aus der Reihe hinausdrängeln, sie wollten nur Standing Ovations machen und dazu schön die Hände über dem Kopf patschen. Wie sich das neuerdings eben gehört. Eine Minute später stand die ganze Kirche klatschend in den Bankreihen, in einer pflichtschuldigen La-Ola-Welle hatten sich die Aufsteher durchgesetzt. Nur ein paar ältere Semester waren sitzen geblieben und klatschten verständnislos in einen Wald aus Beinen und Mänteln. Gleiches Bild bei der Theateraufführung in der Schule, oder zum Ende des Seminars mit dem netten Dozenten.

Tatsächlich reicht normales Klatschen offenbar nicht mehr, das Publikum muss heute stehen, damit es gilt. Bis vor nicht allzu langer Zeit war das Aufstehen beim Applaus die Ultima Ratio der Gunstbezeugung. Vorbehalten für seltene Gelegenheiten, etwa wenn schüttere Greise auf der Bühne einen Preis für ihr Lebenswerk entgegennahmen. Da sollte es mehr sein als nur sitzend gespendeter Beifall, da stand man eben auf. Heute ist diese Steigerung Methode geworden. Eingeschleppt wurde diese Sitte mutmaßlich von den Casting- und Talentshows und jenen sorgsam inszenierten "Gänsehaut-Momenten" ebendort. Bei denen also Jury und Publikum von der Darbietung eines unscheinbaren Kandidaten großäugig hinweggefegt werden. Früher gab es einen dieser werbewirksamen Gänsehaut-Momente pro Staffel, heute einen in jeder Folge und die Standing Ovations eigentlich bei jedem Lied.

Eine törichte Angewohnheit, nicht nur weil es die anderen Klatschenden immer zum Mitmachen nötigt. Das stehende Publikum erreicht auch das Gegenteil seiner Absicht. Es bekundet nicht Ehre für den Auftretenden, sondern lenkt die Aufmerksamkeit weg vom Menschen auf der Bühne und zurück auf sich und die kollektive Ergriffenheit. Es übernimmt die Show, sozusagen. Statt auf dem Künstler zu bleiben, schwenkt die Kamera die Menschenreihen ab, die sich mit Pathosgesicht und in komischer Zeitlupen-Andacht erheben. Im Grunde spricht aus der Inflation der Standing Ovations der große Wunsch, Teil eines Gänsehaut-Moments zu sein. Und hinterher erzählen zu können, es habe sogar ständig Ovations gegeben.

© SZ vom 14.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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