Schön doof:Das Orwell-Amulett

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Eine New Yorker Firma verkauft jetzt Halsketten mit eingebauter Kamera. Damit ist man immer auf Sendung. Titus Arnu findet das beängstigend.

Als George Orwell 1948 seinen utopischen Roman "1984" schrieb, stellte er die allumfassende Kontrolle durch den Großen Bruder als System aus Kameras und "Teleschirmen" dar, die den privaten und öffentlichen Raum erbarmungslos durchdringen. Heute tragen Menschen freiwillig ihre Teleschirmchen mit sich herum und starren wie hypnotisiert darauf. In jeder Fußgängerzone hängen Überwachungskameras, am Berliner Südkreuz-Bahnhof wird ein Gesichtsscanner getestet - kaum einer regt sich darüber auf.

Die Angst vor der Überwachung hat sich ins Gegenteil gewandelt. Wer keine Fotos und Videos aus seinem Privatleben auf Facebook, Instagram und Twitter postet, etwa von seinem großen Bruder oder seiner kleinen Katze, gilt als Außenseiter. So wie in Dave Eggers Roman "The Circle" aus dem Jahr 2013, dessen Verfilmung nächste Woche ins Kino kommt. Dort wird die Videoübertragung aus dem Alltag zur Regel - wer sich dagegen sperrt, gerät in Verdacht, er habe etwas zu verbergen. "The Circle" ist ein erschreckend realitätsnahes Szenario: Ein fiktiver Konzern, der wie eine Fusion aus Apple, Facebook und Google wirkt, entwickelt eine Kamera, die einen ständigen Livestream unseres Lebens produziert. "SeeChange" heißt das Ding, das wie ein Schmuckstück am Hals baumelt. Wie so oft hinkt die Realität der Science-Fiction nur knapp hinterher. Die New Yorker Firma Ubiquiti hat gerade eine Kamera namens "FrontRow" vorgestellt, die "SeeChange" ähnelt: ein kleiner Touchscreen mit hochauflösender Linse, den man an einem Band um den Hals trägt. Die Minikamera kostet 400 Dollar und kann Livestreams auf Facebook, Twitter und Youtube übertragen.

Werbeclaim des Produkts: "Share Your World in Real Time", auf Deutsch: "Teile deine Welt in Echtzeit". Bei "The Circle" lautete der Slogan: "Sharing is caring", frei übersetzt: Teilen ist ein Zeichen von Liebe. Ist das so? Oder ist es nicht eher ein Zeichen von unerträglicher Mitteilungswut, dass immer mehr privater Müll live in die Welt gepustet wird? Leider interessiert das sehr viele Leute. Private Daten sind eine Menge Geld wert und wichtig für Konzerne wie Amazon, Geheimdienste und den Großen Bruder.

George Orwell sah die Videoüberwachung noch als Bedrohung der Freiheit. Heute kaufen wir sie uns freiwillig als schickes Gadget. Zum Glück ist das Livestream-Amulett für 400 Dollar bislang ein komplett überflüssiger Luxus und keine Pflicht.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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