Restaurant "Ma Tim Raue":"Es muss ballern": Radikales aus Fernost

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Im neuen Restaurant von Tim Raue in Berlin gibt es weder Brot noch Reis noch Nudeln - stattdessen serviert er Schwimmblasen und Murahata-Melonen.

Patricia Bröhm

Wer einen Blick in die Zukunft der deutschen Küche werfen will, sollte sich weder von spiegelverglasten Fensterfronten abschrecken lassen noch von dem Gedanken, Fischkutteln oder japanische Apfelblüten zu verspeisen. Er sollte auch kein Teller-Ikebana erwarten, sondern sich ganz auf das konzentrieren, was die Geschmacksrezeptoren von Zunge an Großhirn zu melden haben. Im Falle des am Montag eröffneten neuen Berliner Restaurants "Ma Tim Raue" heißt das: einfach perfekt.

Sattmacher wie Brotkorb und Beilagen gibt es bei Tim Raue nicht. (Foto: Foto: oh)

Es ist in Deutschland lange kein Restaurant mehr eröffnet worden, das die Erwartungen in ähnliche Höhen hat fliegen lassen. Alle wichtigen Faktoren sind vereint: Zum einen ist Tim Raue einer der talentiertesten und experimentierfreudigsten Küchenchefs im Land, zum anderen zeichnet Berlins erste Designlady Anna Maria Jagdfeld für das Interieur verantwortlich.

Nicht zuletzt steht Raue mit der Adlon Holding der Familie Jagdfeld ein Eigentümer im Rücken, der über die Mittel verfügt, um auch mal eine japanische Murahata-Melone zum Einkaufspreis von 120 Euro einfliegen zu lassen. Das Rätselraten war groß, als Ende vergangenen Jahres bekannt wurde, dass Tim Raue gemeinsam mit seiner Frau und Restaurantleiterin Marie-Anne Raue, dem Restaurant 44 - in dem er einen Stern erkocht hatte und vom Gault Millau zum Küchenchef des Jahres 2007 gekürt wurde - den Rücken gekehrt hatte.

Dann wurde bekannt, er wolle mit einem neuen Restaurantkomplex auf der Rückseite des Hotel Adlon ganz neue Wege gehen. Im Gourmetrestaurant Ma Tim Raue pflegt er eine stärker chinesisch inspirierte Küche, im angrenzenden, loungigen Uma eine kreativ japanische Küche. Die vergangenen Monate hat der 34-Jährige genutzt, um seine kulinarischen Inspirationen weiter aufzufrischen: Er flog nach Singapur, Hongkong, Tokio und immer wieder nach London, um global funktionierende Restaurantkonzepte zu studieren.

Im Ma Tim Raue führt der Berliner seinen ganz eigenen Stil fort, von jeher gekennzeichnet durch starke, kontrastreiche Aromen. Er setzt ein Konzept um, das radikal die Regeln der traditionellen französischen Küche ignoriert und gedanklich zu neuen Ufern aufbricht, die eher in fernöstlichen Garküchen zu suchen sind. "Eine vitalisierende, energetisierende Küche" wolle er auftischen, sagt er, und dabei auf überkommenen Ballast wie den obligatorischen Brotkorb oder Sättigungsbeilagen wie Reis, Nudeln und Kartoffeln verzichten. Auch Milchprodukte finden sich auf der Karte kaum. Dafür Fisch, Meeresfrüchte, Fleisch und viele Gemüse und Kräuter.

Wer Spaß daran hat, neue Produkte zu entdecken, wird es ihm danken. Zum Beispiel mit einem Eintopf von Jakobsmuscheln und Fish Maw - das sind die getrockneten Schwimmblasen von weiblichen Fischen, eine Art Fischkutteln. Ihre außergewöhnliche, zarte Konsistenz wird begleitet von bissfestem Spargel und Ingwerstauden, das Ganze eingebunden in einen perfekt zwischen Schärfe und Süße ausbalancierten Fonds. Serviert werden solche Gaumenkitzler in einem Ambiente, das Berlin sein erstes durchaus metropolitanes Restaurant beschert, das so auch in London oder New York stehen könnte. Viel dunkles Holz sieht man hier, Sessel und Sofas in senfgelb und schilfgrün in einer Art asiatischem Wintergarten.

"Mit der Generation Tim Raue wird die deutsche Küche endlich erwachsen", schreibt Manfred Kohnke, Chefredakteur des deutschen Gault Millau, im Vorwort zu Raues eben erschienenem Kochbuch "Aromen(r)evolution". Auch Raue selbst sieht sich als Teil einer neuen Generation von Küchenchefs, die sich von den Einflüssen ihrer Lehrmeister und der Übermacht der französischen Tradition gelöst haben und eigene Wege beschreiten.

An einer neuen deutschen Küchenidentität arbeiten derzeit so unterschiedliche Stilisten wie Joachim Wissler, Thomas Bühner, Nils Henkel oder Sven Elverfeld. Keiner aber ist bisher zu so viel Radikalität wie Raue bereit. Seine fernöstliche Weisheit: "Ich will nicht mehr die Ansprüche anderer erfüllen, sondern nur noch meine eigenen."

Dazu gehört für ihn oberste Frische - Sashimi gibt es hier von Fischen aus der Nord- und Ostsee, die erst am Morgen des selben Tages ihr Leben lassen. Dazu zählen auch die Geschmacksharmonien, die sich immer in einem Fadenkreuz zwischen süß, sauer, scharf und bitter bewegen. Und Fleisch, das bei brüllender Hitze im Wok nur ganz kurz gebraten wurde. "Es muss richtig ballern", sagt Raue.

© SZ vom 26.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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