Peter Licht:Lob der Schweiz

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Wenn man in einem Schweizer Hotel am Frühstückstisch sitzt, stellen sich viele Fragen. Vor allem die nach dem Tischmülleimer.

Die Schweiz ist eines der besten Länder von allen. Die Leute sind überaus höflich, und wenn man morgens runtergeht in den Frühstücksraum im Hotel, ist schon keiner mehr da. Nur ein frühverrentetes Ehepaar aus Deutschland sitzt noch an den aufgeknabberten Tellerchen und berät sich. Obwohl der leere Frühstücksraum etliche Optionen für die richtige Sitzplatzwahl bietet, ist es nicht so einfach, einen RICHTIG GUTEN Sitzplatz zu finden. Irgendwann gelingt es dann aber doch. Die Wände in der Schweiz sind behängt mit Grafiken, auf denen Uhren zu sehen sind, und die Uhrzeit steht immer auf kurz nach zehn. Also frisch auf ans Werk! Tee einschenken und zielsicher in den Tag gleiten. Herrlich.

Das Gute an der Schweiz ist, dass auch dann, wenn man aus Versehen aus dem Tischmülleimer seinen Tee trinkt, das gar nicht so schlimm ist. Man sucht dann einfach den Mundinnenraum mit der Zunge nach unbekannten Gegenständen ab und findet nichts, sondern nur in der Schweiz zubereiteten wunderbaren Tee, weil super sauberer Mülleimer. Cool, danke. Okay, die Frage stellt sich, warum trinkt man hier aus Tischmülleimern? Man lässt den Blick unauffällig durch den Frühstücksraum gleiten, und das Ergebnis der Recherche ist, dass auf jedem Tisch EIN zauberhaft schön anzusehender und anzufassender Keramikbecher mit rotem Außendekor steht, und MEHRERE Kaffeetassen ohne Dekor. Ah okay. Falsche Einschätzung der Gesamtsituation: DIESER Teebecher, aus dem man seinen Tee trank, war kein Teebecher, sondern der Tischmülleimer. Der Tischmülleimer ist ein weißer, sehr schöner Keramikbecher, der von außen mit einem roten Filzflor beflockt ist. Keramik mit Filz beflockt? Warum? Warum handaffine Keramikbehälter mit kleinen wunderschön anzuschauenden und anzufassenden roten Filz-Flor-Kreuzchen beflocken?

Das sind so Fragen, wie man sie sich stellt, wenn man in der Schweiz am Frühstückstisch sitzt. Unauffällig schüttet man den Tee aus dem Tischmülleimer in ein ausgetrunkenes Orangensaftglas. Nicht dass später jemand beim Aufräumen Tee darin findet und sich über die Banausen wundert. Ah, das Saftglas war zu klein. Kein Problem. Den restlichen Tee in die Eierschale des Frühstückseis schütten, das aber ebenfalls überläuft, weil die Eierschale einen Riss hat, egal, Stück Toast um die Eierschalenwand winden, Toast saugt sich voll. Läuft auch über, kein Problem, Serviette drüberlegen, Serviette saugt sich voll, Wurstscheibe drauf, Fett stoppt Wasser, Teebach fließt ins Tischtuch, kein Problem. Wenn das ganze Tischtuch vollgesogen ist, sieht man keine Teeränder, okay, etwas abrücken vom Tisch, damit die Oberschenkel nicht nass werden. Unauffälliger Recherche-Blick durch den Frühstücksraum. Herrliche Uhren-Grafiken an der Wand. Viertel nach zehn. Alles okay.

Man hält den filzbeflorten Becher in der Hand und wundert sich über die Feinheit und Perfektion, mit der es den Tischmülleimerbeflockern in der Schweiz gelingt, die zartrandigen und wunderschönen Keramikbecher mit Filz zu versehen. An keiner winzigen Stelle ist der Filz abgetragen! Alle kleinen Mini-Filz-Flor-Kreuzchen, die das Dekor ausmachen, sind herrlich intakt. Es ist eine Freude, den durch den Tee erhitzten Becher zu halten: keine Hitzeeinwirkung an den Fingern! Herrlich! Keine unangenehme Beeinträchtigung der Haltetätigkeit! Die Fingerkuppen bleiben angenehm kühl. So lobe ich mir einen Teebecher! Ein dezenter Test ergibt, dass sich KEINE EINZIGE Filzfaser aus der Gesamt-Beflockung löst, auch wenn man mit dem Fingernagel (dem herrlich kühlen) daran kratzt!

Man muss sagen, der Tischmülleimer ist derart gut gefertigt und wertbeständig, dass man sich wünschen würde, es gäbe auch in anderen Gegenden der Welt eine solch leistungsfähige Keramikbecherbeflockungsindustrie. Die unangenehme Heißheit und Härte von erhitzten Keramikaußenwänden, die einem ja manchmal sauer aufstößt! Die gibt es hier gar nicht! Das ist wirklich schön, und ich liebe dieses Land. Überhaupt gar keine MÜLLASSOZIATIONEN, wenn man sich den Tischmülleimern nähert! Auch spürt man nicht, wie sonst, den Impuls, sich von ihnen abzuwenden oder ihre Benutzung zu vermeiden! Herrlich.

© SZ vom 18.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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