Mode in der Schweiz:Wo wir sind, ist oben

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Die Stella Fashion Night: Wie es der Schweiz gelingt, sich in der Mode unverzichtbar zu machen.

Verena Stehle

Eine Fahrt in die Schweiz kann sein wie eine Reise in eine Ansichtskarte, auf der man ja auch nie etwas Hässliches oder Negatives findet. Der erste Schnee liegt auf den Bergen wie Zuckerguss, die Straßen sind reinlich, und die Bewohner haben diesen immerlieben Dialekt, der sogar einen Schwerkriminellen symphatisch machen würde. Dieses Stück Erde zwischen Bodensee und Italien hat nun auch die Modebranche auf dem Radar. Und daran ist Miuccia Prada schuld. Die italienische Designerin hat für ihre aktuelle Kollektion überwiegend ein Material verwendet: Spitze - im Fachjargon "Guipure"-, die Prada in St. Gallen produzieren ließ, jahrhundertelang die Spitzenhochburg der Welt. Nun ist Spitze der Wintertrend. Und die Schweiz, wie das renommierte New York Times Style Magazine notierte, "back in fashion".

Ob der Jury die Kleider von Rodarte zu extravagant sind? (Foto: Foto: www.swisstextiles.ch)

Einen besseres Vorspiel hätten sich die Organisatoren der "Stella Fashion Night" nicht wünschen können. Zum wiederholten Male findet das Spektakel in Zürich statt, und noch nie gab es im Vorfeld so viel Resonanz wie in diesem Jahr. Sicher auch wegen der illustren Gäste: Angela und Margherita Missoni werden erwartet, genau wie Patricia Field, Stylistin von "Sex and the City" und "Der Teufel trägt Prada". Hauptprogrammpunkt aber ist die Verleihung zweier Modeförderpreise: Den annabelle-Award des gleichnamigen Frauenmagazins - quasi Gutschein für ein Jahrespraktikum beim Musterlabel Missoni - gewinnt ein schweizerischer Modeschulabsolvent. Und der Swiss Textiles Award, der zum neunten Mal vom Schweizer Textilverband überreicht wird, geht an ein aufstrebendes, internationales Label. Als die sechs Finalisten im August feststanden, schrieb das US-Fachblatt Fashion Week Daily: "The alps are calling!"

Von überall her ist man dem Ruf gefolgt. Das globale Modedorf, also Journalisten, Stylisten, Einkäufer und andere mit Bedacht Gekleidete drängeln sich in einem stillgelegten Industrieareal in Zürich-West, Champagnerglas an Champagnerglas und Häppchenteller an Häppchenteller. Die Veranstalter haben sich sichtlich bemüht, dem Event einen weltstädtischen Anstrich zu geben. Die Maag Music&Event Hall ist eine dieser heruntergewirtschafteten Fabrikhallen, die seit Andy Warhol als chic gelten, vielleicht, weil ein verschmutzter Boden die anwesende Dekadenz erdet. Die Modeschar hat sich auf lila Wohnmöbel drapiert, und wer raucht, ascht auf den Boden.

Keine Röhrlihose in der Schweiz

Die Schweizer sind eleganter als beispielsweise die Leute in Berlin, man sieht keine Turnschuhe und kaum "Röhrlihosen", wie Wurstpellenjeans in der Schweiz freundlich genannt werden. Alles ist weniger uniform und weniger aufgesetzt. Kommt jemand dazu, rufen die, die schon da sind: "Hey, ciao!" Ein paar Meter weiter steht ein ein Meter sechzig großes Stück New York: Patricia Field, die heute nicht nur Mitglied der Swiss-Textiles-Award-Jury ist, sondern auch ihre neue Modelinie präsentieren wird, die es ab sofort in Kaufhäusern wie Globus in der Schweiz zu kaufen gibt. An der Garderobe holt sich gerade Diane Pernet, die Pariser Modeblog-Ikone, ihr lila Eintrittsbändchen ab. Begleitet wird sie - die eine Konstruktion auf dem Kopf hat wie ein griechisch-orthodoxer Priester - von einem Jüngling im goldenen Paillettenoberteil.

Mitten in der Menge, aber dennoch verloren, stehen zwei bemerkenswert unmodische Frauen in Jeans und Bluse: Es sind Kate und Laura Mulleavy vom kalifornischen Label Rodarte, das heute für den Swiss Textiles Award nominiert ist. Um das zu schaffen, reicht es übrigens nicht aus, einmal vor einer Nähmaschine gesessen oder ein Loch gestopft zu haben. Wer vom Expertengremium berücksichtigt wird - bewerben kann man sich nicht - muss mit seiner Marke seit vier Saisons am Markt sein, auf einer der Prêt-à-porter-Schauen zeigen, und seine von der Presse hochgelobte Mode weltweit verkaufen. "Der Preis ist eine große Sache", sagt Laura Mulleavy, "eine Riesenchance, die eigene Marke aufzubauen." Was sie mit dem Geld anstellen würden, wollen wir wissen? "Accessoires!! Und Schuhe!!!"

Die Schweiz hat immer Geld

Während die Welt hinter den Bergen Säcke voller Festgeld verliert, Länder Rettungspakete schnüren und die Medien den Kreditcrash für alle Lebensbereiche durchdeklinieren, demonstriert die Schweiz, dass sie immer Geld hat, ganz besonders für die schönen Künste. Und so wirkt es nach außen hin, als sei der Staat, der sich aus der nicht ganz unwichtigen EU heraushält, immun gegen alles Negative, was in der Welt vor sich geht. "Ich glaube", schreibt der Schweizer Millionärssohn Christian Kracht in seinem Roman Faserland von 1995, "dass die Schweiz so ein großes Nivellierland ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist."

Eine Halle weiter, wo gleich die Stella Fashion Night beginnt, überstrecken gerade ein paar Gäste in den hinteren Reihen ihre Halswirbelsäule. Seit vergangenem Jahr ist die Veranstaltung für jeden zugänglich; die Preise reichen von 35 Schweizer Franken für einen Stehplatz bis zu 180 Franken für einen Sitzplatz. Für die Macher ist diese Demokratisierung lukrativ, und für die Gemüsefachverkäuferin oder den Investmentbanker die Chance, einen Blick auf Margherita Missoni zu werfen - Tochter aus renommiertem Modehause und Fixpunkt der europäischen Haute Volée -, die später am Abend in einem schulterfreien Kleid ungerührt danebenstehen wird, während ihre Mutter den annabelle-Preis übergibt. Oder um Patricia Field live zu erleben, die gar nicht redet, wie man sich das vorstellt bei Stilikonen, sondern mehr wie ein angetrunkener Seemann, mit sehr tiefer, kehliger Stimme.

Die Leute in den ersten Reihen sind natürlich wegen des Swiss Textiles Award hier. Ganz vorne sitzt die Jury, die die jeweiligen Newcomer-Kollektionen nach Kreativität und kommerziellem Potential beurteilen wird. Mit dabei: Terry Jones vom Londoner iD magazine, Akris-Chefdesigner Albert Kriemler, Einkäufer von Luxusboutiquen in Kuwait und Tokio, und natürlich Diane Pernet und Patricia Field. Drumherum gruppieren sich Vertreter der einflussreichen Magazine.

Die Fräuleins tragen Cocktailkleider, schwarze Strumpfhosen und Schnürstiefeletten, deren klobiger Absatz gebogen ist wie ein Rabenschnabel. Die Herren haben sich optisch an Beau Brummell orientiert, dem Opa aller Dandys: Sie tragen Anzug oder Uniformjacken, dazu Schals, über die schulterlange dunkle Locken fallen. Das meistverbreitete Utensil des Abends: schokoladentafelgroße Blackberrys, auf die eingehackt wird, als müsste jedes noch so kleine Detail umgehend der Welt mitgeteilt werden.

Wer ist diese Stella eigentlich? Weiter auf der nächsten Seite ...

An diesem Abend geht es um 100.000 Euro, so viel ist der Swiss Textiles Award wert. Ursprünglich für den Schweizer Nachwuchs bestimmt, ist der Preis seit sechs Jahren weltweit ausgeschrieben. Dass die Prioritäten sich derart verschoben haben, erklärt Ronald Weisbrod, Präsident der PR-Kommission des Textilverbands Schweiz, folgendermaßen: "Wir wollten der Welt zeigen, dass wir stark sind, also mussten wir international gehen." Dass es seither kein Schweizer ins Finale geschafft hat, sei definitiv ein Mangel. "Aber wir können ja nicht noch einen so teuren Preis aufstellen."

Die Jury hat entschieden: Der erste Preis geht an das - bermerkenswert unmodisch gekleidete - Designer-Duo Kate und Laura Mulleavy von Rodarte. (Foto: Foto: www.swisstextiles.ch)

Dann wird die Frage beantwortet, wer eigentlich diese Stella ist. Eine virtuelles Geschöpf mit melancholischem Blick, das die Finalisten in einem Film vorstellt. Das Publikum erfährt: Louise Goldin war auf dem berühmten Central Saint Martins College, genau wie Richard Nicoll, dessen Kollektion gleich nach dem Studium von Dolce&Gabbana aufgekauft wurde. Yasuko Furuta, die Japanerin hinter dem Label Toga, lässt sich von Independent-Filmen inspirieren. Die Belgierin Cathy Pill ist vernarrt in Pixelmuster. Jean-Pierre Braganza wurde von Lagerfeld protegiert. Und ein Kleid der Rodarte-Schwestern, die sich das Modemachen vor drei Jahren selbst beibrachten, hängt im Metropolitan Museum of Art in New York.

Aber brauchen Designer wie Rodarte, deren Entwürfe Chloë Sevigny und Kirsten Dunst tragen und bis zu 25.000 Dollar kosten, das Geld? "Die Labels, die wir einladen, sind schon berühmt, aber haben finanzielle Probleme", erklärt Ronald Weisbrod. Wie Raf Simons 2003: "Obwohl er von der Presse bewundert war, hatte er kein Geld mehr. Der Preis war seine letzte Rettung." Bald darauf wurde er Chefdesigner von Jil Sander.

Baumlange Models in leichter Rückenlage

Nach jedem Einspieler präsentieren die Newcomer ihre Frühjahrskollektion 2009 an baumlangen Models. Einen Catwalk gibt es nicht, aber sonst wurde an nichts gespart. Der Stella-Film ist aufwendig produziert, die Musik eigens für diesen Abend auf die Mode zugeschnitten, und die Models sind Profis: Sie staksen genau wie all die Jessica Stams und Agyness Deyns in NewYorkParisLondonMailand, der Oberkörper etwa 20 Grad nach hinten geneigt. Sehr Prêt-à-porter.

Was bewegt einen so kleinen Staat, einen so großen Modepreis ins Ausland zu schicken? Und überhaupt: Die Schweiz ist berühmt für Berge, Uhren, Schokolade, Taschenmesser - aber eine Modenation? Als Patricia Field ein paar Stunden vorher mit dieser Frage konfrontiert wird, schüttelt sie nur den Kopf: "Eine Modenation? Nicht, dass ich wüsste." Schweiz und Anziehsachen, da fällt einem nur ein: Slips von Zimmerli, die auch Karl Lagerfeld trägt. Lkw-Planen-Taschen von Freitag, die im Grunde noch nie Mode waren. Große Labels sind an einer Hand abzählbar oder an einem Finger: Das St. Gallener Modehaus Akris, das bei Bergdorf Goodman mit seinen Verkaufsshows Rekorde bricht.

Wenn Leute vom Schlag eines Albert Kriemler fehlen, das Land aber dennoch in der Branche mitspielen will, muss es sich anders zu behelfen wissen. Also sucht sich die Schweiz ähnlich kreative Köpfe, versorgt sie mit eigenen Produkten, damit diese wiederum als Botschafter dafür sorgen, dass irgendwann vielleicht auch St. Galler Spitze oder Zürcher Seide top of the world werden, wie Schoggi und St. Moritz. So kommt es, dass sich der Gewinner für 10.000 Euro Stoffe bei den Mitgliedfirmen des Textilverbands aussuchen kann. Mit den übrigen 90.000 Euro begleicht der Verband offene Rechnungen für PR und Shows.

Die Kunst der richtigen Antwort

Rodartes griechische Punk-Kleider erzeugen den größten Applaus. Die Jury zieht sich zurück, und der Teil des Abends folgt, um sich Antworten zurechtzulegen für Freunde, die anderntags fragen werden: Ist Margherita Missoni so schön wie in der Gala? Viiiel schöner. War Patricia Field angezogen wie Carrie Bradshaw? Nö, ganz in Schwarz, und auf dem Haar saß eine komische rote Brille.

Dann zeigt noch Gräko-Österreicher und Vorjahresgewinner Marios Schwab, dass er das Preisgeld nicht in Drogen und schnelle Autos, sondern vernünftig in eine Frühjahrskollektion investiert hat. "Es ist gut", sagte er beim Interview am Mittag, "dass das Geld nicht frei auf einem Konto rumliegt, sondern eingeteilt ist. So verliert man die Kontrolle nicht. Man muss das Geld für Zeiten sparen, wo es nicht so leicht sein wird wie bisher. Uns stehen schwere Zeiten bevor."

Überstehen wird diese Zeiten nur, wer die richtigen Leute kennt. Mode-Mäzene. Und Newcomer, die eines Tages vielleicht Yves Saint Laurent oder Coco Chanel beerben werden. Der Textilverband begleitet den Gewinner zwei Jahre, und darf in dieser Zeit auch mit ihm werben. "Danach bleibt der Kontakt bestehen", sagt Ronald Weisbrod, und grinst: "aber wir zahlen einfach nicht mehr."

Wenige Stunden später vermelden die Online-Newsticker der britischen Vogue und des US-Fachblatts Women's Wear Daily: Rodarte gewinnt den Swiss Textiles Award. Noch treffender wäre: Die Schweiz gewinnt Rodarte.

© SZ vom 22.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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