Mode aus Kalifornien:Hot Couture

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Das kalifornische Label Rodarte macht's möglich: Nach langer Zeit überrascht die amerikanische Mode wieder mal mit exaltierter Schneiderkunst.

Alex Bohn

Laura und Kate erkannten ihre Berufung am Küchentisch ihrer Eltern. Genau erinnern sie sich nicht daran, aber es war wohl ein Tag wie jeder andere. Vielleicht saßen sie auf der Eckbank aus rotem Holz und blätterten durch die Bücher, die sie aus der Huntington-Bücherei geliehen hatten. Vielleicht blickten sie aus dem Fenster hinaus in die Landschaft Kaliforniens. Jedenfalls entschieden sich die zwei amerikanischen Schwestern an jenem Tag dazu, ein Modelabel zu gründen, und nannten es Rodarte, nach dem Mädchennamen ihrer Mutter.

Aus der aktuellen Kollektion von Rodarte (Foto: Foto: www.rodarte.net)

Eine ungewöhnliche Aktion für zwei Mädchen, die zum damaligen Zeitpunkt eher wenig praktische Erfahrung mit Stoffen und Schnittmustern gehabt hatten: Laura und Kate hatten an der Universität von Berkeley in Kalifornien studiert, die eine englische Literatur, die andere Kunstgeschichte. Mode hatte sie zwar immer schon interessiert, doch der Gedanke, sie zu studieren, war ihnen niemals in den Sinn gekommen, auch nicht an diesem einen Tag am Küchentisch. Kate und Laura wollten sie gleich zum Beruf machen - dabei waren sie schlicht ahnungslos.

Hollywood liebt Rodarte

Heute, kaum drei Jahre später, tragen Schauspielerinnen wie Cate Blanchett und Kirsten Dunst anlässlich großer Preisverleihungen die Kleider der Schwestern. Dr. Valerie Steele, Modekritikerin und Herausgeberin der Zeitschrift Fashion Theory, erstand drei ihrer Entwürfe für das Fashion Institute of Technology (FIT) in New York. Und Anna Wintour, die gefürchtete Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, zeigte Rodartes Kreationen bereits auf dem Cover ihres Magazins.

Kein Wunder, dass die einheimische Branche vom Nachwuchs so begeistert ist - denn USA und Haute Couture, das war lange Zeit ein Widerspruch. Im Mutterland der leisure wear, der Freizeitkleidung, gab es seit einer Ewigkeit (genauer seit den High Times des Couturiers Charles James in den dreißiger bis fünfziger Jahren) keine gehobene Schneiderei im ursprünglichen Sinne mehr. Amerikanische Mode zeichnet sich eher aus durch eine unverkünstelte, zeitlose Eleganz, die den Massengeschmack trifft - tragbare "Allday-Fashion" von Calvin Klein über Donna Karan bis hin zu Vera Wang.

Die Schwestern Kate und Laura Mulleavy machen zwar auch Prêt-à-Porter-Mode, aber ihre Entwürfe sind nicht für jeden Tag und schon gar nicht für jedermann. Rodarte-Kleider sind Kunstwerke, die handwerklich durchaus an Haute Couture erinnern: Die Schnitte sind ungewöhnlich, die Verarbeitung aufwendig und die Materialien so hauchzart, dass man in manche der Chiffongebilde nur mit Ankleidehilfe hineinkommt. Und sie sind derart mit Details gespickt - Drapierungen, aufgestickten Perlen und Applikationen -, dass sie plastisch wirken wie eine Skulptur, die auf den Körper der Kundin nur bedingt angewiesen ist. Nur, woher stammt diese Vorstellungskraft der Designerinnen und woher ihr handwerkliches Talent?

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Frei nach dem amerikanischen Traum

Bei Barneys beliebt: Roben von Rodarte (Foto: Foto: www.rodarte.net)

Die Geschichte von Rodarte wäre weniger spektakulär, wenn die Mulleavy-Schwestern aus reichem Elternhaus stammen würden oder von Anfang an wohlmeinende und finanzstarke Förderer gehabt hätten, auf deren Kosten sie sich Schnittmacher und Näherinnen hätten leisten können. Aber Kates und Lauras Familie verfügt weder über viel Geld noch über wichtige Kontakte zur Modewelt, von denen die Töchter hätten profitieren können: Der Vater arbeitet als Botaniker, er hat sich auf Pilze spezialisiert, ihre Mutter fertigt Teppiche im Stil der Navajo-Indianer. Zudem sind die Mulleavy-Mädchen in Aptos aufgewachsen, einer winzigen Stadt nahe der Universität von Santa Cruz, in der Gegend von Muir Woods und Pebble Beach, wo es fast verpönt war, Geld zu verdienen. Der Vater sagte einmal zu den Mädchen: "Studiert das, was euch gefällt. Richtet euch nicht nach einer vermeintlichen Karriere, und erhaltet eure Neugierde."

Die Neugierde, etwas völlig anderes zu machen, muss damals größer gewesen sein als die Angst zu versagen. Das Studium werfen die beiden kurzerhand hin und ziehen zurück zu ihren Eltern, in das Haus in Pasadena. Das erste Startkapital für Stoffe und Nähutensilien erwirtschaften sie durch den Verkauf ihrer Plattensammlung. Fortan dient ihr gemeinsames Schlafzimmer auch als Atelier, dort skizzieren und nähen Kate und Laura Tag und Nacht ihre ersten Entwürfe.

Einige Monate und zehn Kleider später recherchieren sie die Namen ihrer liebsten Moderedakteure und der besten Presseagenturen. Statt nach Kontakten zu suchen, die ihnen als Türöffner nützen könnten, wählen Kate und Laura einen Weg, der direkter und naiver nicht sein könnte: Sie basteln Papierpuppen, die Miniaturmodelle ihrer Kleider tragen, und fertigen Skizzenbücher, die ihre bisherige Arbeit dokumentieren. Bücher und Puppen schicken sie an die Handvoll ausgewählter New Yorker Adressen.

Im Frühjahr 2005 dann packen die Mittzwanzigerinnen ihre zehnteilige Kollektion in einen Koffer und reisen nach New York. Dort angekommen, hoffen sie, dass sich überhaupt einer bei ihnen meldet. Aber weil Amerika amerikanische Märchen braucht und liebt, werden sie angerufen. Es vergehen nur wenige Tage, bis ihre Entwürfe auf dem renommierten Branchenblatt Women's Wear Daily zu sehen sind; und auch die Nobel-Kaufhäuser New Yorks, Barneys und Bergdorf Goodman, empfangen die Schwestern und bestellen ihre Roben.

Zugegeben, diese Geschichte klingt wie ein phantasievoller PR-Gag. Zwei Aschenputtel, denen die eitle New Yorker Modeszene wegen ein paar Papier-Anziehpuppen den Hof macht? Und das in dem Land, in dem Mode an der Marktfähigkeit gemessen wird und erst dann an ihrer kreativen Vision? Sicher ist, die Geschichte wäre so nicht geschrieben worden, wären die Entwürfe keine Sensation - gemessen an der Tatsache, dass Kate und Laura sich das Schneidern innerhalb kürzester Zeit selber beigebracht haben.

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Ohne Ausbildung ganz nach oben

Die Schwestern sind ein Phänomen. Sie stellen die Gesetzmäßigkeiten der Branche auf den Kopf, in jeder Hinsicht: Während junge europäische Designer mit einer starken, aber wenig tragbaren Idee ihre Karriere beginnen - und in den folgenden Kollektionen zahmer werden, werden Rodarte immer wagemutiger. In ihrer ersten Kollektion für Frühling/Sommer 2006 zeigten sie ausschließlich Kleider, deren Radikalität in einer ungewöhnlichen Verarbeitung und exquisiten Materialien bestand, aber allesamt tragbar waren. Damit ist seit der Herbst-Winter-Kollektion des letzten Jahres Schluss: Die Schwestern präsentierten Kleider und Röcke, die so ausladend waren wie Lampenschirme, gefertigt aus laminierten Stoffen, Kunstleder und Bianchini-Brokat aus den zwanziger Jahren.

In einem solchen Kleid sieht eine Extra-Small-Kundin zwar aus, als wäre sie Extra-Large - aber in ihrer Kunstfertigkeit sind die Kollektionen von Rodarte über jeden Zweifel erhaben. Um Tragbarkeit oder Gefälligkeit kümmern sich die Designer-Geschwister ohnehin nicht. Laura formuliert es so: "Kommerziell erfolgreich zu sein, hat für uns wenig Bedeutung. Wir interessieren uns dafür, unsere Technik zu verbessern und uns weiter zu entwickeln. Unsere Mode ist keine Funktionskleidung, sie ist nicht für jedermann." Und Kate fügt hinzu: "Die Reaktionen auf unsere Arbeit sind immer extrem. Das ist gut so. Es gibt keine schlimmere Beleidigung, als dass jemand zu unseren Kleidern sagt: 'Das ist aber nett!'"

Roben für den Lebensunterhalt

Jede ihrer Kollektionen beginnt mit einem Kleid. Das, so betonen die Modemacherinnen, sei kein Konzept, sondern ergebe sich einfach so. Feststeht, es sind die Kleider, die Kates und Lauras kommerzielles Auskommen sichern. Natürlich nicht die, die eben aussehen wie unförmige Lampenschirme, sondern jene, die am Ende einer Modenschau über den Laufsteg schweben: große Roben, die vierstellige Summen kosten und wie gemacht sind für den Auftritt von Schauspielerinnen auf dem Roten Teppich.

Ob magische Anziehung oder ausgeklügelte PR-Strategie - die Damen, die Rodarte in der Öffentlichkeit tragen, verkörpern stets das Traumbild, das man vom Typus Frau hat. Die prominenten Rodarte-Repräsentantinnen sind allesamt Wesen, zart, ätherisch und so entrückt, als seien sie nicht ganz von dieser Welt, wie Gwyneth Paltrow, Nicole Kidman und Keira Knightley. Die märchenhaften, romantischen Kleider von Rodarte machen diese Inszenierung perfekt, ja sie lassen die Damen noch fragiler und überirdischer wirken, als sie ohnehin schon sind. Schönere Werbeträger für ihre Kreationen könnten sich die Mulleavy-Schwestern nicht wünschen.

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Gute Köche haben keinen Hunger

Kate oder Laura wird man nie in einem ihrer Kleider sehen. Wenn sie am Ende ihrer Modenschauen den Laufsteg betreten, sehen sie so gar nicht aus wie eine Frau in Rodarte: Immer tragen sie Turnschuhe, Blue Jeans und ein dunkelblaues Oberteil. Beide sind übergewichtig, beiden fließt das volle, braune, glatte Haar über die Schultern. Wenn sie den Beifall des Publikums entgegennehmen, sind ihre Gesten verlegen, in ihren Auftritten auf dem Laufsteg liegt immer etwas Unbeholfenheit. Sie wirken wie große, glückliche, aber schüchterne Kinder.

Möglicherweise ist es genau diese Kindlichkeit, die ihre Arbeit prägt und so außergewöhnlich macht. Die Mode, die Kate und Laura Mulleavy schaffen, ist spielerisch, sie ist naiv, ohne diese Naivität bewusst als Stilmittel zu nutzen. "Mode zu schaffen ist für uns ein sehr persönlicher Prozess", sagt Kate Mulleavy, "wir verarbeiten Erlebnisse und Eindrücke aus unserem Leben."

Und das sieht man. Ihre Kleider sind wie ein dreidimensionales Skizzen- und Tagebuch, das man anziehen kann. In der aktuellen Kollektion taumeln auf einem Kleid eine Vielzahl von Blüten, die aussehen, als hätte man sie mit der Heißklebepistole fixiert. Laura und Kate erzählen, dass es die Kirschblüten sind, die ihnen während ihrer ersten Japanreise überall aufgefallen sind.

Arbeiten nahe an der Inspiration

Ebenso direkt visuell übersetzt haben sie ihren Eindruck des Fudschijamas vor blauem Himmel - der Verlauf der Farben findet sich in den grobmaschigen Strickteilen der aktuellen Kollektion wieder. In der visuellen Gestaltung ihrer Mode arbeiten die Schwestern mitunter so naiv und unverklausuliert wie ein Student im Proseminar Plastisches Gestalten oder Freie Malerei. Das gepaart mit ihrer handwerklichen Begabung führt zu einer Mode, die aussieht, als habe der Maler Cy Twombly die Muster dafür geliefert.

Weil ihr Ausnahmetalent inzwischen auch in Europa aufgefallen ist, gibt es bereits Spekulationen darüber, welches gestandene Couture- oder Modehaus die Schwestern als Chefdesignerinnen verpflichten wollen könnte. Doch noch sitzen die beiden nicht wieder auf gepackten Koffern: "Unsere Entwicklung ist anders verlaufen als bei anderen Designern. Los Angeles ist angenehm weit von der Modewelt entfernt, wir haben erst spät gemerkt, wie sehr wir uns von anderen Designern unterscheiden. Jetzt haben wir hier ein Netzwerk von Leuten, das uns unterstützt. Das gibt uns Kraft, uns so weiterzuentwickeln, wie wir das bisher auch getan haben."

Ihre Mode entwerfen und schneidern sie jetzt in ihrem ersten winzigen Atelier in Downtown, Los Angeles. Mit ein paar Angestellten, einer Filiale des Büromaterialherstellers Staples nebenan und dahinter dem freien Blick auf die kalifornischen Berge. Das Schlafzimmer in Pasadena teilen sie sich noch immer.

© SZ vom 02.02.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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