Leben im Zirkus:Erst Hausaufgaben, dann Manege

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Annette Schwer leitet eine Schule für Zirkuskinder, die ihren Schülern mit einem Zirkuswagen hinterher fährt.

Interview von Thomas Hahn

SZ: Frau Schwer, ist es toll oder schwierig , ein Zirkuskind zu sein?

Annette Schwer: Beides. Es ist spannend, es ist anders. Der Zusammenhalt in den Zirkusfamilien ist groß. Die Kinder arbeiten mit im Zirkusalltag, helfen bei der Tierpflege, studieren Kunststücke ein, treten auf. Aber als Zirkus über die Runden zu kommen, ist schwierig. Die Eltern sind immer sehr beschäftigt. Die Tiere müssen versorgt werden, Vorstellungen sind fast täglich. Und dann gibt es das Problem mit der Schule: Zirkuskinder sind ständig unterwegs, sie können nicht immer in dieselbe Schule gehen.

SZ: Deshalb gibt es Ihre Schule in Nordrhein-Westfalen (NRW). Wie funktioniert sie?

Annette Schwer: Bei uns gehen die Kinder nicht in die Schule, die Schule geht zu den Kindern. Wir haben 30 Lehrer. Die besuchen die Zirkusse, die in NRW sind. Wir kommen meistens gegen neun Uhr beim Zirkus an. An unserem Wagen haben wir Schellen, das ist unser Schulgong. Dann kommen die Kinder, und wir arbeiten fünf bis sechs Stunden lang. Manchmal auch am Nachmittag.

SZ: Die Eltern können Sie bestellen?

Annette Schwer: Nein, wir sind eine staatlich anerkannte Schule, die von der evangelischen Kirche bezahlt wird. Die Eltern stellen für ihre Kinder einen Aufnahmeantrag. Den besprechen wir, bevor wir einen Schulvertrag abschließen, und dann geht's los. Wir haben Lehrer aus allen Schulformen, bunt gemischt, weil ja auch ganz unterschiedliche Kinder bei uns sind. Die jüngsten sind fünf, die ältesten 16. Jedes Kind bekommt bei uns seinen eigenen Unterricht.

SZ: Das klingt gut. Wo ist der Haken?

Annette Schwer: Die Kinder müssen mehr selber lernen. An einem Zirkus sind oft nur drei Kinder, da können wir nur zweimal pro Woche kommen. In der restlichen Zeit arbeiten die Kinder selbständig oder lernen in der Online-Betreuung mit einem Lehrer.

SZ: Mögen die Kinder Ihre Schule?

Annette Schwer: Im Kern empfinde ich es so, dass sie unsere Schule lieben. Es ist für sie so, als brächten wir ein Stück Außenwelt in ihr Leben. Und wir machen tolle Sachen. Wenn ein Windrad in der Nähe ist oder eine Kirche, gehen wir da hin. Wir machen Schulfahrten, wir basteln.

SZ: Die normalen Fächer gibt es nicht?

Annette Schwer: Doch. Natürlich. Alle.

SZ: Auch Mathe?

Annette Schwer: Klar. Aber wir versuchen immer, einen Bezug zum Alltag der Zirkuskinder herzustellen. In Mathe rechnen sie dann eben die Maße ihres Zirkuszelts aus.

SZ: Eine Schule wie die Ihre gibt es nur in NRW. Wie lernen Zirkuskinder anderswo?

Annette Schwer: Die müssen von Schule zu Schule ziehen. Es gibt spezielle Lehrer, die ihnen beim Wechsel helfen, bei den Hausaufgaben oder bei Problemen. Manche Zirkuseltern stellen Privatlehrer an. Wir kämpfen dafür, dass auch die Zirkuskinder in anderen Bundesländern eine mitfahrende Schule bekommen.

© SZ vom 27.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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