Kleine Geschichte des Bergsteigens:Vom Höhenschwund des Gipfelstürmers

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Auf Dauer konnte der Gentleman-Sportler sich nicht behaupten, weil er zu viel Energie zum Knüpfen seines Krawattenknotens verausgabte. Doch beim Bergsteigen fiel ihm ein letzter Sieg zu: Der Gentleman und Amateur Sir Edmund Hillary bezwang den Mount Everest.

Burkhard Müller

Die Neuzeit hebt an mit der Landschaft, mit dem Erwachen des Sinns dafür, dass sie eine ästhetische Qualität besitze, die unabhängig von ihrer Nützlichkeit, ja oft gerade im Gegensatz dazu existiert. Und da kein Merkmal der Erdoberfläche, selbst das Meer nicht, so sehr Landschaft ist in dem Sinn, dass es sich so wenig für irgendeinen menschlichen Zweck verwenden lässt, wie die Berge, so darf man die These verengen und sagen: Die neue Zeit beginnt mit dem Blick auf die Berge.

Sir Edmund Hillary (rechts) und Tenzing Norgay Sherpa (Mitte) 1953 nach ihrer Landung in London Heathrow. (Foto: Foto: Reuters)

Dass eine Gegend schön sein könne, war auch in früheren Zeiten bekannt; es gab seit der Antike in Kunst und Dichtung den "locus amoenus", das Ideal des lieblichen Orts. Aber diesen bestimmte es, dass er es den Absichten des Menschen besonders leicht machte: Es gab hier so viel Schatten und Wasser, wie er wollte, er war nicht völlig platt, aber in seinen Rundungen und Schwüngen doch so, wie man sie auch am menschlichen Körper angenehm findet, und bar aller verkehrstechnischen Erschwerungen.

Nicht als ob es darauf angekommen wäre: Zum lieblichen Ort gehörte es, dass man schon da war, nirgend mehr hinwollte und alle Anstrengung hinter sich gelassen hatte. Die ihm gemäße Haltung bestand in einer gewissen Erschlaffung, einem Tändeln am liebsten aus halb liegender Position heraus.

Die Berge kamen dagegen früher vor allem als Hindernis in Betracht, als das, was mühselige Aufstiege und Umwege erzwang, in seinen Kernbereichen sich dem menschlichen Fuß ganz entzog.

Der Geschmack an den Bergen entwickelt sich im 18. Jahrhundert bei den Reisenden, die die Schweiz aufsuchen, langsam von unten nach oben: Es fängt an mit den Seen und den Almen und einer gewissen sentimentalen Sympathie für die Menschen, die dort wohnen.

Reißt man einen Schweizer von dort los, so stellt sich bei ihm eine erstaunliche und heftige Reaktion ein, die damals überhaupt erst einen Namen bekommt: das Heimweh. Gerührt hört die Zeit die Geschichte von dem Schweizer Soldaten, zu dem in Straßburg über unermessliche Entfernungen das heimische Alphorn herüberschallt; er kann nicht anders, er muss los, wird als Deserteur gefasst und erschossen.

Von der Kulisse solcher Vorgänge zum Gegenstand eigenen Rechts erheben sich die Alpen, als die Ästhetik das Erhabene entdeckt: das Übergroße, das mit dem Menschen in keine Beziehung mehr tritt, ja diesem, falls er eine Annäherung versuchen sollte, lebensgefährlich werden müsste. Das Erhabene wird im Schauder erlebt, und es beerbt in dieser wichtigen Hinsicht den alten christlichen Gott. So darf man, obwohl viele beteuern, gerade im Anblick der Berge manifestiere sich ihnen die Größe Gottes, die Frömmigkeit zu den Firnen insgesamt doch als Teil eines größeren Säkularisierungsprozesses buchen. Die Gipfel scheinen anfangs so unzugänglich wie die Sterne.

Der Sportler als Gentleman

Aber schon bald schlägt der Affekt in Aktivität um: Man will haben, worüber man so erstaunt; die Federführung geht von den Dichtern auf die Kraxler über, es zeichnet sich eine Entweihung ab. Die Alpen setzen dem keinen wirklichen Widerstand entgegen; schon um 1800 werden die höchsten Gipfel bezwungen. Auf den Montblanc, so heißt es plötzlich abschätzig, könne man eine Kuh hochtreiben. Der Montblanc aber ist der höchste Berg Europas.

Die wahren neuen Herausforderungen fanden sich auf anderen Kontinenten, vorbehalten den Herren der Welt, den Angelsachsen und damit dem Typus des Sportlers, wie er vor hundert Jahren galt: als Gentleman und Amateur.

Ihm rechneten damals auch die Tennisspieler und die Rennfahrer zu, ja selbst die Boxkämpfer der unteren Gewichtsklassen. Ihr Gerät war nach heutigen Standards lächerlich, schweres und doch wackliges Gestänge aus Eisen oder Holz, die Kleidung vom normalen eleganten Straßenanzug nicht prinzipiell geschieden.

Das geht nur, solange das olympische Prinzip, dabeisein sei alles, wahrhaftige Achtung genießt und die Zugehörigkeit zur sportlichen Klasse mehr zählt als der nur aus dem Geist der exklusiven Feindseligkeit zu erzielende Rekord.

Auf die Dauer konnte der Gentleman-Sportler sich darum nicht behaupten, weil er zu viel Energie zum Knüpfen seines Krawattenknotens verausgabte. Nurmehr der restlos windschlüpfrig gemachte Profi hatte noch eine Chance.

Doch gerade beim Bergsteigen fiel dem Gentleman noch, unmittelbar bevor er das Feld räumen muss, der letzte und entscheidende Sieg wie ein Abschiedsgeschenk zu: Edmund Hillary schafft es, erstmals den höchsten Berg der Erde zu bezwingen.

Das ist nun ein Rekord, der sich schlechterdings nicht mehr einstellen lässt. Und hieraus entspringt eine gewisse Verlegenheit für das Bergsteigertum überhaupt. Der schnellste Sprinter kann immer noch überboten werden, wenn es gelingen sollte, 100 Meter statt in 9,74 in 9,70 und dann in 9,6 Sekunden zu laufen; auf 0,0 Sekunden wird der Rekord unter Garantie nie fallen, das heißt, hier wird immer noch was gehen. Aber beim Mount Everest geht es nun ein für allemal nicht höher hinauf als 8848 Meter.

Vieles, nicht zuletzt die große Zahl der Gipfelstürmer, die es inzwischen auch geschafft haben, spricht dafür, dass die heutigen Profi-Bergsteiger um vieles "besser" sind als Hillary im Himalaya. Aber es hilft ihnen nichts, sie werden nie an seinen Ruhm heranreichen. Diese 8848 Meter bedeuten ein absolutes Maß, und jede andere Leistung muss im Vergleich damit relativ, ja geradezu willkürlich erscheinen.

Besonders muss dies den zweitberühmtesten Bergsteiger aller Zeiten verdrossen haben, Reinhold Messner. Ganz ohne Zweifel ist Hillary gegen ihn nur ein Waisenknabe gewesen. Aber dies kann er nur durch die Figur des selbstauferlegten Handicaps dartun.

Er kann auf die Sherpas verzichten und auf den Sauerstoff, er kann den Zugang über die steilsten Steilwände wählen, alles das wird über die engere und weitere Fachwelt hinaus nicht ganz so gewürdigt, wie er es beansprucht. Solche überragende Kraft und Zähigkeit findet auf diesem Globus nicht mehr den Gegenstand, der ihr entspräche. Sport heißt Rekord, und Rekord heißt reine Zahl, und in reine Zahlen sind diese Kasteiungen (selbst wenn die Überhänge nach Schwierigkeitsgraden klassifiziert werden) nicht zu fassen

So gewinnen die Berge wieder Ähnlichkeit mit dem zweiten großen Gegenstand des erhabenen Gefühls, den Sternen. Wie auf das Reiseerlebnis die Bergtour, so war, wenngleich mit einiger Verzögerung, auf die Astronomie die Raumfahrt gefolgt.

Und auch hier gab es einen Everest, der sich nur ein einziges Mal zum ersten Mal erobern ließ: den Mond. Dessen Hillary hieß Armstrong. Auch hier konnte seither von einer rekordhaften Überbietung keine Rede sein, sondern allein von Wiederholungen, die von Mal zu Mal an Glanz verloren, sodass man (im Fall der NASA) schließlich bis auf weiteres darauf verzichtete, es nochmal durchzuexerzieren.

Der Gletscherkronen beraubt

Die Besteigung des Everest gestaltet sich billiger und lässt sich inzwischen pauschal buchen; die dort erzielten "Firsts" haben es nun damit zu tun, dass es Leute auf den Gipfel schaffen, denen man sonst schon zu ebener Erde gewisse Schwierigkeiten zutrauen würde, Alte, Behinderte und Blinde.

Ließe es sich denken, dass noch einmal ein Bergsteiger so berühmt wie Hillary würde? Von ihm heißt es, auf die Frage, warum er denn unbedingt da hinauf wolle, habe er nur gesagt: "Because it's there." Das war einmal, lakonisch in die Faktizität verpackt, die Feier des Ungeheuerlichen auf Erden. Heute bedeutet derselbe Satz nichts anderes als sich selbst und damit das Rezept für eine todsichere Enttäuschung.

Vielleicht haben die Berge ihren kulturgeschichtlichen Zweck erfüllt und kehren heim in den alten Zustand. Dann wären sie wieder, ihrer Gletscherkronen zunehmend beraubt, leicht lästige Riesenbrocken, dazu da, den Österreichern Maut verdienen zu helfen.

© SZ vom 12.01.2008/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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