Kindsmisshandlung:Handeln vor dem ersten Schlag

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Zehntausende Fälle und die Suche nach einem Frühwarnsystem: Ist ein Kind zu Tode gequält worden, kommt das Entsetzen zu spät. Was es bringen kann, wenn die Hilfe schon bei werdenden Müttern einsetzt.

Heidrun Graupner

Braunschweig, im Dezember - Spielzeug liegt keines herum, jedenfalls nicht im Wohnzimmer. Aber mit Spielzeug kann Markus auch noch nichts anfangen. Sieben Wochen ist er alt, ein hübsches Baby mit großen Augen, runden Backen und dunklem Haarflaum, adrett angezogen mit weißem Hemdchen und blauer Strampelhose. Ein Baby, das Mutter und Großmutter abwechselnd umsorgen, es im Arm wiegen, sanft massieren, weil es Bauchweh hat an diesem Tag und immer wieder schreit. Schon in der Nacht hatte Markus geweint und an den Nerven gezerrt, Mutter und Großmutter sehen müde aus. Dann, als Tina. das Baby stillt, beruhigt es sich. Und sie schaut dabei unverwandt auf ihren kleinen Sohn, streicht ihm über Stirn und Wangen. Niemand scheint sie stören zu können.

Brutal misshandelt wurde auch die dreijährige Karolina. Dann wurde sie tot aufgefunden. (Foto: Foto: ddp)

Ein heiler Moment in einer eher düsteren Wirklichkeit. Tina (die Namen der Betreuten sind verändert) ist 16 Jahre alt, eine Teenager-Mutter aus einer "sozial stark belasteten Familie", so heißt der offizielle Begriff. 52 Quadratmeter misst die Wohnung in einem grauen Braunschweiger Haus für Mutter, Baby und Großmutter, wobei die Großmutter eine schlanke Frau von Mitte vierzig ist. Tinas Vater hat sich von der Familie getrennt, die beiden älteren Geschwister leben anderswo. Tina ist aus der Hauptschule geflogen, zu aggressiv soll sie gewesen sein. In diese Schule kann sie nie mehr zurück. Als sie schwanger wurde, war eine Abtreibung kein Thema, ihre Mutter sagte, "wir ziehen das durch". Der Vater des Babys schaute sich das Neugeborene ein paar Tage lang an, erklärte dann, er habe kein Interesse und verschwand. Tina erzählt das mit einem bitteren Lächeln.

Vielleicht wäre die Wirklichkeit noch viel verworrener, hätte Tina nicht bereits während der Schwangerschaft professionelle Hilfe bekommen. Das Jugendamt hatte ihr dringend geraten, sich beim niedersächsischen Projekt "Pro Kind" anzumelden, und seit fünf Monaten ist die Hebamme Christel Lohrengel ein ständiger Besuch, meist einmal in der Woche, nach der Geburt jeden Tag. Manchmal kommt auch noch die Sozialpädagogin Michaela Hespos, die, wenn Markus acht Wochen alt wird, die Betreuung übernehmen wird. Es sei schwierig gewesen, Vertrauen aufzubauen, sagt Christel Lohrengel. Beim dritten Besuch habe sich Tina geweigert, die Tür zu öffnen, erzählt die Hebamme, und das Mädchen sei erstaunt gewesen, dass sie wiederkam, ganz gelassen und ohne erhobenen Zeigefinger, "denn damit erreicht man nichts".

Die Zeit nach Kevin

Erreicht werden aber soll viel mit "Pro Kind". Als ein Frühwarnsystem wurde es entwickelt, es soll verhindern, dass Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden. Mit zehn Millionen Euro will die Familienministerin mehrere solche Modellprojekte fördern. Dass "Pro Kind" darunter ist, kann nicht verwundern, weil Ursula von der Leyen, damals Sozialministerin in Hannover, das Projekt mit entwickelt hat, zwölf Frauen werden bereits seit einigen Monaten betreut. Am 3. November wurde "Pro Kind" offiziell gestartet, zweieinhalb Wochen, nachdem der zweijährige Kevin in Bremen tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Stiefvaters gefunden worden war.

Mit Kevin in Bremen, mit den anderen erschreckenden Fällen, die seither bekannt wurden, ist Kindesmisshandlung ein politisches Thema geworden. Fast jede Woche werden neue Forderungen veröffentlicht, Bayern oder Hessen planen Pflichtuntersuchungen beim Kinderarzt, Justizministerin Brigitte Zypries will Kinder aus überforderten Familien per Gerichtsanordnung in den Kindergarten oder zum Arzt schicken. Wie viele Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden, weiß niemand, es gibt keine genauen Zahlen: Sind es 50 000 Fälle im Jahr oder 100 000, was die Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung annimmt? Sind es 200 000, was Unicef glaubt?

Die Hebamme Christel Lohrengel geht seit Jahrzehnten zu den Familien, und es sind die Armen, die misstrauisch sind, die Kontrolle und Zwang wittern, alle Türen und sich selbst verschließen. "Wenn ich das Vertrauen habe, dann sind die Mütter froh. Aber sie lassen niemand anderen in die Wohnung." Je schlechter die Situation der Mütter, desto schwieriger werde es für die Kinder. Viele dieser Mütter hätten das intuitive Gefühl verloren, wie ein Kind gefördert werden muss. Sie akzeptierten nicht, wenn sich das Baby normal bewege. Die Kinder seien überfüttert, bekämen etwas zu essen, wenn sie nur den Mund aufmachten. Manche Mütter wüssten nicht einmal, wie man Kartoffeln kocht. Den ganzen Tag lang laufe der Fernseher, er schaffe eine verzerrte Wirklichkeit. "Pisa", sagt Christel Lohrengel, "fängt bei uns Hebammen an."

Rufer in der Wüste

Tina hat ihre bisherigen Lektionen gelernt, sie ist intelligent. Sie sei gereift und zuverlässiger geworden, ihre Aggressionen seien verschwunden, erzählt die Hebamme, das Baby gedeihe gut und sei zufrieden. "Die erste Bindung an das Kind ist gelungen", jene Bindung, ohne die Kinder in große Gefahr geraten, vernachlässigt zu werden. Am Stillen liege das, erklärt sie. Ausschließlich Tina sei die Bezugsperson, niemand sonst füttere das Kind. "Es funktioniert über ganz simple Elemente, der größte Schutz für das Kind ist die Bindung."

Es war der Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, der "Pro Kind" entwickelt hat. In den USA entdeckte Christian Pfeiffer das Projekt: 24 000 Frauen in 650 Städten und Landkreisen werden von der Mitte der Schwangerschaft an bis in die ersten drei Lebensjahre ihres Kindes von einer family nurse begleitet. "Das Neue an dem Projekt ist der frühe Beginn der Hilfe." Es sind Erstgebärende, die diese Hilfe erhalten, denn sie, sagt Pfeiffer, seien noch bereit, sich zu ändern. Alle Frauen leben in einer schwierigen finanziellen Situation, alle sind zusätzlich belastet, weil sie minderjährig sind, keinen Schulabschluss haben oder weil ihnen Gewalt angetan wurde, die sie dann oft selbst ausüben. Der Erfolg des Projekts ist belegt. Die Kinder dieser Frauen werden seltener krank, drogenabhängig oder kriminell. "Jeder Dollar, der investiert wird", sagt Pfeiffer, "spart vier Dollar an Folgekosten."

Nun sind nicht alle so begeistert von "Pro Kind" wie Christian Pfeiffer oder Ursula von der Leyen. Sozialpolitiker, vor allem aus der Union, fordern seit dem Fall Kevin, es müsse sofort gehandelt werden. Ein wissenschaftlicher Modellversuch, der bis 2009 daure und nur 280 Frauen in fünf Städten Niedersachsens und in Bremen erfasse, genüge nicht. Warum Deutschland ein amerikanisches System überstülpen, fragen Experten, obwohl es doch im Land viele erfolgreiche Initiativen gebe, das Düsseldorfer Präventionsprojekt zum Beispiel, das Mütter nach der Geburt mit einem Netz von Hilfen auffängt. Konkurrenzdenken scheint sich breitzumachen, weil Fördermittel in dieser Zeit der aufgeregten Debatten etwas üppiger fließen. Pfeiffer hat die Geldfrage einkalkuliert, langfristig. Angesichts der finanziellen Lage in Bund und Ländern könne sich "Pro Kind" nur bundesweit durchsetzen, "wenn es Geld spart", und dafür brauche man den wissenschaftlichen Beweis.

Wie schnell das Interesse am Thema Kindesmisshandlung versiegt, hat Reiner Frank ganz nah erfahren. 16 Jahre ist her, als - fast wie in Bremen - in München der fünfjährige Patrick tot gefunden wurde, das Kind war gequält, geschlagen und gewürgt worden. Das Jugendamt kannte die Familie. Zwei Jahre vor seinem Tod war Patrick mit schweren Verbrühungen in die Universitätskinderklinik eingewiesen und wieder nach Hause entlassen worden, der Kinderarzt und Kinderpsychiater Frank hatte ihn damals gesehen. "Das hängt mir noch heute nach", sagt er. 1992 beschloss der Stadtrat, 81 Stellen im Allgemeinen Sozialdienst zu schaffen, damit künftig kein Kind ein solches Schicksal erleiden muss. 16 Monate später war nicht eine dieser Stellen besetzt, es kam nie dazu, es musste gespart werden, der Fall Patrick geriet in Vergessenheit.

"Wir sagen nicht: Du musst"

Damals hat Reiner Frank für ein Frühwarnsystem geworben, hat über Mütter geschrieben, die ihre Babys mit spitzen Fingern anfassen, keinen Blickkontakt suchen, und darüber, wie sehr diese Kinder gefährdet sind. Wenn er die Diskussion heute hört, fühlt er sich wie der Rufer in der Wüste. In seinem Schreibtisch liegt die Akte eines Kindes, das er begleitet hat, mahnendes Beispiel für alle, die vom Sparen reden, mit Fotos eines dreijährigen verletzten Knaben, die kaum zu ertragen sind. Jahrelang war der Knabe so verwirrt, dass er nicht wusste, wer ihn so gequält hatte. Mit zehn Jahren malte er ein Bild, eine leere Fläche und zwei winzige Strichmännchen am Rand: Eines streckt die Arme in die Höhe, das andere, der Vater, hält eine Peitsche in der Hand, jene mit einem großen Nagel bewehrte Peitsche, mit der er geschlagen wurde. Heute ist er zwanzig. Das Trauma, Lernschwächen und Alkoholprobleme hat er überwunden. Erst jetzt beginnt sein Leben.

Handeln, bevor es passiert. Reiner Frank versucht noch immer, diese Regel durchzusetzen. Ärzte, erzählt er, sehen viel zu wenig, sie nehmen zu wenig wahr, es fällt ihnen schwer, die Stärken von schwachen Müttern anzusprechen. "Ich komme aber nur an jemanden heran, wenn ich etwas gut finde." Er hat Leitlinien verfasst, veranstaltet Rollenspiele mit Ärzten, damit sie lernen, wann die Alarmlampen aufleuchten müssen. Zum Beispiel, wenn eine übermüdete Mutter ihr Kind einen Schlawiner nennt, weil es sie nicht schlafen lässt, sie also einem Baby unterstellt, es wolle sie ärgern, absichtlich. "So lange die Ärzte nichts sehen und hören, bringen Pflichtuntersuchungen nichts", sagt Frank. Die Hebammen und Sozialpädagoginnen in Braunschweig oder Celle klagen, dass Kinderärzte kaum Hausbesuche machen. Sie wüssten nichts über die Lebensumstände der Familien, ob das Kinderbett an einer Steckdose oder in einem verqualmten Raum stehe, ob im Bett ein Hund schlafe, ein großer und gefährlicher.

In Celle, in der Wohnung der Familie N., leben viele Tiere. Hinter einer Tür bellt dunkel ein Hund, im Wohnzimmer sitzen zwei Sittiche in einem Käfig, im Flur steht ein Terrarium mit der Kornnatter Else. Drei Geschwister habe sie, sagt Silvia, eigentlich sogar vier, doch das jüngste sei tot geboren worden, ohne Arme und ohne Beine. Der Vater sei im Gefängnis. Silvia ist 17 und im sechsten Monat schwanger. Wie eine 14-Jährige sieht sie aus, mit Kinderaugen und einem Pferdeschwanz. Ganz gerade sitzt sie da, auf der äußersten Kante der Couch, die Augen auf den Boden gerichtet wie ein sehr schüchternes Kind.

Ihr Freund Peter ist auch 17, doch er gibt sich lockerer. "Shocking" sei es, dass Silvia ein Kind bekomme, sagt er, in einem Celler Jugendtreff sei es passiert, "da geh' ich nie mehr hin". Abtreibung kam für niemanden in Frage, Silvias Mutter, eine kleine, dunkelhaarige Frau, meinte, sie würden auch dieses Kind groß bekommen. Eine eigene Wohnung hat Silvia gefunden, fast neben der ihrer Mutter, "dann kann ich ihr das Baby geben". Ihr Freund will dort nicht einziehen, "das ist zu früh". Er hat nach diesem Satz das Gefühl, dass er sich verteidigen muss. "Ich werde nicht abhauen", sagt er mit rotem Gesicht, "dann hätte ich keine Familie mehr." Und er meint damit nicht Silvia, sondern seine Familie.

Die Hebamme Ulrike Schmidt-Harries und die Sozialpädagogin Ulrike Rathmann werden viel Zeit brauchen, Silvia in eine selbstbewusste, in eine stolze Schwangere zu verwandeln. Die Schule hat Silvia abgebrochen, weil sie sich schämt, schwanger zu sein. Auch Peter hat keinen Schulabschluss. "Es ist keine Erziehungskompetenz vorhanden, es gibt keine Strukturen, keine Sicherheit", sagen Hebamme und Sozialpädagogin voll Sorge. "Das versuchen wir zu erarbeiten, ohne Stress. Wir wollen Vertrauen gewinnen, feste Bezugspersonen sein, denen sie etwas erzählen kann, das sonst niemand erfahren soll."

An der Bürotür von "Pro Kind" in der hannoverschen Adolfstraße fehlt das Türschild, der Umzug ist noch nicht lange her. Projektleiterin Anna Maier-Pfeiffer wirkt gehetzt, Kontakte mit Jugendämtern, Ärzten, Beratungsstellen müssen geknüpft werden, dort sollen schwangere Frauen auf das Projekt hingewiesen werden. Referentin im niedersächsischen Sozialministerium ist sie außerdem und die Frau von Christian Pfeiffer. "Wir haben andere Chancen als das Jugendamt", sagt sie, "wir bieten den Frauen an, wenn du Lust hast, mach' mit. Wir sagen nicht, ,du musst betreut werden'." Die Frauen könnten jederzeit aus dem Modellversuch aussteigen, sie dürften auch zurückkehren, alles sei freiwillig. So werde Misstrauen abgebaut, es entstünden informelle Netzwerke mit Ärzten oder Jugendämtern. "Wir sind kein Ersatz für die ambulante Betreuung, wir beginnen einen Schritt bevor sie nötig wird. Das ist eine Pionierarbeit."

Tina hat viele Pläne, seitdem ihr Baby auf der Welt ist. Ihren Schulabschluss will sie machen, mit dem Sohn zu Massagekursen und Spielstunden gehen, "ich bin dabei, das Leben ganz zu ändern". Einen neuen Freund hat sie gefunden, der das Baby süß findet, 16 Jahre ist er alt - eine Information, bei der die Hebamme Christel Lohrengel erschrocken die Luft anhält. Doch es ist nicht der richtige Moment, um darüber zu reden. Und Tina sagt noch mehr. "Der Alltag mit dem Baby ist leichter, als ich gedacht habe, es ist nicht mehr so langweilig", meint sie lächelnd. Ein paar Minuten später beklagt sie das Gegenteil: "Ich habe es mir leichter vorgestellt", und ihr fällt der Widerspruch, der viel erzählt über ihre zerrissenen Gefühle, nicht auf. Tina, sagt die Hebamme Christel Lohrengel, betrachte ihr Baby als eine Art Puppe, doch sie könne es nicht mehr wie eine Puppe weggeben. "Es ist für sie noch ein weiter Weg."

© SZ vom 7.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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