Junger Designerstar:Die Lim-Formel

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Liebling der Stars und Fashionistas: Das Glückskind der Branche verbindet Talent mit Geschäftssinn.

Alex Bohn

Dass Phillip Lim Modedesigner ist, ist eine Schande. So zumindest sieht es seine Mutter. Ihr Sohn sollte Anwalt werden, Doktor oder Finanzexperte. Aber nicht ihr Schicksal teilen: nähen. Achtzehn Stunden am Tag für einen Hungerlohn von drei Dollar pro Stunde. Tagein. Tagaus. "Ich habe ihr gesagt, dass es bei mir nicht so sein wird", sagt Phillip Lim und verliert für einen winzigen Moment seine Haltung.

Seine Mutter gab ihm mit auf den Weg: "Junge, gib Acht auf deine Gesundheit." (Foto: Foto: Getty Images)

Nicht, dass er unruhig auf seinem Stuhl herumrutschen oder mit fahrigen Gesten die Luft zerteilen würde. Sein steter Blick rutscht nur für einen Augenblick nach innen, fixiert für den Bruchteil eines Moments nicht ganz aufmerksam sein Gegenüber und die Umgebung. Er sieht aus, als habe man ihn an einen Ort erinnert, an den er lieber nicht geht.

Dabei wirkt der 33-Jährige sonst, als könnte ihn wenig aus der Ruhe bringen. Er scheint angenehm neutral zu sein. Wie sein makelloser Aufzug: knitterfreies hellblaues Leinenhemd, oberster Knopf geöffnet, dunkelblaue Tuchhose, schwarze Lederschuhe, kein Schmuck, trockener Händedruck. Er sitzt aufrecht, die Hände im Schoß, und trinkt Cola light.

Dabei geht es in seinem Showroom im garment district in Chelsea hoch her. Keine fünf Minuten vergehen, in denen es nicht an der Tür klingelt und ein angenehmer Dreiklang ertönt. Es sind die Einkäufer, die erwartungsvoll die winzige Lobby betreten. Einer nach dem anderen nimmt wahlweise auf einem weißen Leder-Dreisitzer oder einem der mit lila Brokatsamt bezogenen Sessel Platz. Da warten sie dann. Darauf, durch die neueste Lim-Kollektion geführt zu werden, um über ihre Order zu entscheiden. Im eigentlichen Showroom präsentieren Modelle den Einkäufern Lims Entwürfe und staksen vor gut gefüllten Kleiderstangen auf und ab, an denen eine Handvoll Assistenten und Assistentinnen Kleider, Mäntel, Hosen und Blusen auf- und abhängen.

Genau zwei Tage ist es her, dass Phillip Lim in der New York Public Library seine fünfte Kollektion präsentiert hat. Wo andere knapp tausend Gäste laden, hat er sich auf 500 beschränkt. Seine Präsentation, die von Modell Irina Lazareanu eröffnet wurde, war ungewöhnlich: Nicht, weil er Dinge vorführte, die man von ihm nicht erwartet hätte. Er zeigte schöne Kleider, die zu Tag wie Abend passen, Variationen des perfekten Trenchcoats, für den er unter anderem bekannt ist, und wohldosierte Akzente - Kardinalrot und Schwefelgelb zu Kamelhaarfarben, Wildlederblusen zu Seidenhosen - um nicht gefällig zu wirken.

Die Präsentation selber aber war ungewöhnlich: Zu Aphex Twins "Jynweythek Ylow", aus dem Marie Antoinette Soundtrack, betritt ein Modell nach dem anderen einen Laufsteg aus ockerfarbenem Stein, der spiralförmig auf fünf runde Plateaus zuläuft. Anders als beim üblichen come and go laufen die Modelle nicht nur über den Catwalk, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Sie bleiben. Und formen auf der Bühne ein Gruppenbild, das Lims neuste Kollektion auf einen Blick zeigt. Für die Show und seine neue Kollektion erntete er viel Lob und einige kritische Anmerkungen.

"Ich war wahnsinnig unsicher"

Weder von den Höhen noch den Tiefen der letzten Tage merkt man ihm in diesem Moment etwas an. Auch nicht von dem Spannungsabfall, der jeden Designer überkommt, wenn er mit dem fertig ist, worauf er fast ein halbes Jahr hingearbeitet hat: der nächsten Kollektion. Kann diesen wohlgelaunten Phillip Lim also nichts aus der Ruhe bringen, außer seiner Familie?

Auch seine Geschichte erzählt er recht gelassen, dabei ist die alles andere als normal. Er wurde in Bangkok geboren. Als er zwei Jahre alt ist, ziehen seine Eltern an die amerikanische Westküste, nach Orange County. Er ist das jüngste von sechs Geschwistern. Seine Mutter arbeitet als Näherin, sein Vater ist Profi-Pokerspieler. Es gab immer eine unausgesprochene Vereinbarung: Er würde zur Uni gehen und etwas Anständiges lernen, dann würde er es besser haben, und das Schicksal der Familie stünde in einem guten Licht. Lim hielt sich an die Regeln und studierte BWL an der California State University in Long Beach. Aber im dritten Jahr entschied er sich anders.

Der Moment der Erweckung kam unerwartet: Lim jobbte im kalifornischen Ableger des New Yorker Nobel-Kaufhaus Barneys. Dort packte er eine Lieferung der Modedesignerin Katayone Adeli aus. Als er ihre Kleider in Händen hielt, dachte er: "Das verstehe ich, das will ich machen." Noch am selben Tag rief er in Adelis Büro an und bewarb sich um einen Praktikumsplatz. Referenzen hatte er keine, nur eine lose Sammlung von Polaroids, die ihn in verschiedenen, eigens kombinierten Outfits zeigten. Seit er ein kleiner Junge war, hat Lim seine Alltagsgarderobe selbst ausgewählt. "Ich habe immer darauf bestanden dabei zu sein, wenn meine Mutter Kleidung für mich einkaufte." Und er bettelte so lange, bis sie seine Kleidung so abänderte, dass sie ihm gefiel. Wirklich gefiel.

Adeli erkannte Lims Talent. Er erhielt nicht nur das Praktikum, sondern bereits nach zwei Wochen das Angebot für eine Festanstellung sowie den Auftrag, nach Paris zu reisen, um dort Stoffe für die nächste Kollektion auszusuchen.

Lim folgte seinen neuen Aufgaben mit traumwandlerischer Sicherheit. An seiner Uni belegte er Kurse in Hauswirtschaftslehre und eignete sich so ein Basiswissen in textilem Gestalten an. "Ich war mir wahnsinnig unsicher darüber, wie die Dinge gemacht wurden, weil ich die Abläufe nicht kannte, wie man beispielsweise Schnittmuster anfertigte oder wie genau Skizzen auszusehen hatten, aber ich war nie unsicher, was meine Entscheidung anging. Für meine Mutter hingegen war sie unverständlich. Näherin zu sein oder Schneider - aus der Perspektive unseres kulturellen Hintergrunds bedeutete das ein Leben in relativer Armut und ohne Perspektive."

Als Katayone Adeli ihr Label nach New York verlegte und Lim anbot, mit der Firma umzuziehen, war er für diesen Schritt nicht bereit. Und deshalb: arbeitslos. Anlass zur Sorge gab es jedoch nicht. Der Freund eines Freundes bot ihm finanzielle Rückendeckung an und ermöglichte Lim die Gründung seines ersten eigenen Labels: Development.

Gemeinsam mit seinen Geschäftspartnern entwarf er Mode für Mädchen um die zwanzig: in einfachen Schnitten und mit einer reduzierten Farbpalette. Development war erfolgreich, aber seine Partner wollten die Marke massenkompatibler machen. Die Freizeitkleidung sollte sich an der urkalifornischen Marke Juicy Couture orientieren. Doch Lims Interesse an beerenfarbenen Jogginghosen aus Nickistoff war begrenzt. Er stieg aus. Wieder war Lim arbeitslos, doch erneut schienen sich die Dinge einfach zu fügen.

Wen Zhou schickte ihm ein einfaches Ticket nach New York. Wenn es einen Satz gibt, den man in Interviews von Wen Zhou und Phillip Lim häufiger hört, dann diesen: "Wir sind wie ein und dieselbe Person, nur trägt eine von uns Röcke." Auch Wen Zhous Eltern sind chinesische Immigranten. Genau wie Lims Mutter ist ihre Mutter Näherin, ihr Vater arbeitet als Küchenkraft in einem Restaurant. Zhou hat BWL studiert, zur Mode kam sie über einen Ferienjob, in dem sie Knöpfe verkaufte. Mit 21 war sie CEO ihres ersten Textilunternehmens, Development gehörte zu ihren Kunden. Heute ist sie CEO bei 3.1 Phillip Lim.

Zum ersten Mal begegneten sich die beiden in Paris. "Ich trug ein Kleid, das aus aufgefädelten Perlen bestand", erzählt Zhou, "und weil ich irgendwo hängenblieb, begann es aufzuribbeln. Die Geschäfte waren bereits geschlossen, und es war schier unmöglich, irgendwo Nadel und Faden zu besorgen. Ich war aufgeschmissen. Dann kam Phillip. Er sah mich und das Kleid und besorgte Nadel und Faden. Ich weiß nicht, woher. Jedenfalls war von diesem Moment an klar, dass wir zusammengehörten."

Ein kreatives, kein Liebes-Paar

Lim und Zhou sind ein kreatives Paar. Kein Liebespaar. Ein Tag nach seiner Landung in New York bot sie ihm an, 750 000 Dollar in eine gemeinsame Firma zu investieren, gab ihm zwei Monate Zeit, ihre erste Kollektion zu entwickeln und ihr einen Namen zu geben. Lim sagte ja, zog nach New York, in das rosafarben gestrichene Kinderzimmer in Wen Zhous Wohnung. Das war 2005, beide waren 31 Jahre alt, und sie entschieden sich dafür, ihr gemeinsames Alter in dem Label festzuhalten: 3.1 Phillip Lim.

Alles Weitere ist eine Geschichte von Fleiß, Talent und akribischem Finanzmanagement. Bereits im ersten halben Jahr erzielten die beiden einen Umsatz von 2,8 Millionen Dollar, die jetzige Winterkollektion brachte einen Umsatz von 30 Millionen Dollar. Nach nur zwei Jahren im Geschäft grenzt das an Zauberei. Lim und Zhou arbeiten mit einem Team von 45 Mitarbeitern, einschließlich der Angestellten, die in ihrem ersten Laden in der Mercer Street in Soho arbeiten. Lim erklärt die Prinzipien ihrer Firma: "Jeder hier arbeitet eigenverantwortlich, alles basiert auf wechselseitigem Vertrauen und Respekt." Hinzu kommt, dass beiden ihr kultureller Hintergrund zugutekommt: Das Gros ihrer Kollektionen wird in China produziert, dass sie beide fließend Chinesisch sprechen, ist einer ihrer wichtigsten Vorzüge.

Das und die Tatsache, dass sie etwas bieten, was auf dem amerikanischen Markt rar ist: komplette Hingabe und Detailversessenheit für jeden Aspekt ihres Produkts. Sie besinnen sich auf eine der Stärken amerikanischer Mode - Tragbarkeit - aber haben eine klare kreative Vision, die verhindert, dass ihre Arbeit banal wird. Lims erste Entwürfe waren die für einen perfekten Trenchcoat, ein perfektes Kleid und eine perfekte Bluse." Als ich 2002 angefangen habe, habe ich mir den Markt genau angesehen. Es gab alles, aber vieles war lieblos. Und wenn etwas Qualität hatte, dann war es oft hoffnungslos überteuert. Das wollte ich ändern." Lims Antwort war eine Kollektion, die qualitativ hochwertig war, handwerklich perfekt und dabei erschwinglich - kein Kleid kostete mehr als 600 Dollar. Die Klientel, die sie erreichen wollten: die junge Großstädterin, die sich individuell und gut anziehen möchte, ohne sich finanziell zu ruinieren. Die Art Mädchen, die sich Yves Saint Laurent nicht leisten kann und Marc by Marc Jacobs immer dann auf der Stange hängen lässt, wenn dessen Entwürfe zu jugendlich sind.

Man kann Lims Mode einfach nennen, mitunter minimalistisch, tragbar und feminin. Am besten, er beschreibt sie selber: "Ich will Kleidung, die nicht perfekt ist. Die den Leuten Platz gibt, sie zu kombinieren, wie immer sie wollen. Meine Entwürfe sollen sie nicht definieren, sondern lediglich unterstützen." Wie sehr ihm das gelingt, zeigt ein Blick auf eine beliebige Partyseite einer US-Zeitung oder Modestrecke einer internationalen Modezeitschrift. Lims Kleider sind überall. Wo Jacobs der gemeinsame Nenner junger Fashionistas war, macht sich jetzt Lim breit. Sein Erfolg ist nicht zu übersehen: Zhou und er planen weitere Shops in Los Angeles und London, es wird eine Kinder-Kollektion geben, Sonnenbrillen und Parfüm, eine Herrenkollektion existiert bereits.

Und Lims Mutter? Man würde denken, dass sie freudestrahlend in der ersten Reihe jeder seiner Modenschauen sitzt. Doch seine Mutter sieht weder viel von der guten internationalen Presse, die Lim erhält, noch kennt sie sein Atelier oder seinen Laden. Er besucht seine Familie viermal im Jahr. Alles, was sie zu ihm sagt, ist: "Gib acht auf deine Gesundheit, du hast nur eine." Ein bisschen naiv denkt man, es müsste doch so einfach sein, den Geist der Vergangenheit zu vertreiben. Seine Mutter müsste nur einmal zu einer seiner Schauen kommen, stolz strahlend in der ersten Reihe sitzend sehen, dass alles gut ist mit dem Jungen im Schneidergeschäft. Lim sagt: "Bislang habe ich mich noch nicht getraut, sie einzuladen." Hoffentlich im nächsten Jahr.

© SZ vom 22./23.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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