Gesund durch den Winter:Kälte ohne Gefühl

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Das Gemeine an Erfrierungen ist: Man merkt sie erst mal gar nicht. Deshalb ist ein bewusster Umgang mit der Kälte nötig.

Felicitas Witte

Als Anne Kohli aus dem Auto stieg, schnitt ihr die Kälte wie ein Messer durchs Gesicht. Das Thermometer zeigte minus 35 Grad Celsius. Während ihres Schuljahres in Kanada hatte die 17-Jährige so etwas noch nicht erlebt. Ihre Mitschüler sahen mit ihren ins Gesicht gezogenen Mützen aus, als wollten sie eine Bank überfallen. Doch sie hatten nichts Böses vor: In einer Berghütte wollten sie den Abschied eines Austauschschülers feiern. "Ich hatte schon am Anfang der Tour kalte Füße", erinnert sich die heute 29-Jährige. "Sie taten aber nicht weh, und ich wollte auf keinen Fall auf den Ausflug verzichten."

Polarforscher wissen, wie sie sich vor Kälte schützen - jetzt kann man dieses Wissen auch in unseren Breiten gut gebrauchen. (Foto: Foto: bilu)

Einige Stunden später wurden ihre Zehen taub, sie spürte sie nicht mehr. Aber sie ignorierte das: In der Hütte würden die Füße schon wieder warm werden. Als Kohli dort nach sieben Stunden Stiefel und Socken auszog, erschrak sie: Drei Zehen waren komplett schwarz. Ein Mitschüler wusste, was das bedeutete: "Deine Zehen sind erfroren."

"Das Tückische an Erfrierungen ist, dass man sie nicht bemerkt", sagt Christoph Kruis von der Deutschen Gesellschaft für Berg- und Expeditionsmedizin. "Aber schon wenn Finger, Zehen, Nasenspitze oder Ohren taub werden, ist das ein ernstes Alarmzeichen." Während der Erfrierung wird nicht nur die Haut geschädigt, sondern manchmal auch die darunter liegenden Gewebe.

Drei Stadien werden unterschieden - je nachdem, was beim Erwärmen der erfrorenen Partien passiert: Im Stadium I rötet sich die Haut nur, im Stadium II bilden sich Blasen, im Stadium III stirbt die Haut ab.

Bei den derzeitigen Temperaturen können leicht Erfrierungen auftreten. "Bei Wind und hoher Luftfeuchtigkeit kann es sogar schon bei Plusgraden dazu kommen", sagt Martin Burtscher, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin. Gefährdet seien nicht nur Skifahrer oder Kletterer, sondern auch Winterwanderer und Kinder, die zu lange im Schnee spielen.

Während eine Erfrierung ersten Grades meist folgenlos abheilt, gibt es bei den höheren Stadien Folgeschäden: Die Nägel verformen sich, die Gelenke zeigen Verschleißerscheinungen, mitunter sterben Körperpartien ab oder müssen amputiert werden.

Das liegt daran, dass sich Körperzellen bei Minusgraden nicht viel anders verhalten als eine Bierflasche im Eisfach: Die im Innern gefrierende Flüssigkeit dehnt sich aus, bis die Hülle platzt. Zusätzlich sterben Zellen, weil sich die Blutgefäße zusammenziehen, sodass die Sauerstoffversorgung nicht mehr gewährleistet ist.

Ob und wie schnell Körperteile erfrieren, ist individuell verschieden. So haben Raucher und Menschen mit Durchblutungsstörungen oder Diabetes ein erhöhtes Risiko. Auch Kleinkinder sind besonders gefährdet. "Man sollte Hände, Gesicht und Füße von Kindern alle halbe Stunde befühlen und fragen, ob ihnen kalt ist", sagt Höhenmediziner Kruis.

Der Schreck nach einer Erfrierung ist glücklicherweise meist größer als die Folgen. "Ich hatte große Angst, meine Zehen zu verlieren", sagt Anne Kohli. Auf Anraten ihrer Mitschüler setzte sie sich damals ans Kaminfeuer und rieb ihre Füße mit beiden Händen. "Nach einer Weile bildeten sich Blasen, es tat höllisch weh", erzählt sie. So wenig man beim Erfrieren von Körperteilen merkt: Das Auftauen ist oft äußerst schmerzhaft.

Früher hieß es, das Reiben würde helfen, doch heute raten Experten davon ab: "Man sollte Erfrierungen auf keinen Fall mit Schnee einreiben oder die Haut massieren", sagt Gebirgsmediziner Burtscher. Dadurch werde das Gewebe nur stärker geschädigt. "Wer ein taubes Gefühl hat, sollte anhalten und die betroffenen Partien aufwärmen, zum Beispiel unter den Achseln oder in der Leistenbeuge des Kameraden."

In der Unterkunft angekommen, sollte sofort das oft schmerzhafte Aufwärmen in lauwarmem Wasser beginnen. Danach geht es so schnell wie möglich zum Arzt, der Schmerzmittel gibt, Antibiotika und Medikamente für die Durchblutung.

Bloß nicht reiben!

"Ob ein erfrorener Körperteil amputiert werden muss, lässt sich erst nach Tagen oder Wochen sagen", sagt Urs Hefti, Vorsitzender der Schweizerischen Gesellschaft für Gebirgsmedizin. Der Chirurg empfiehlt, jede Erfrierung einem Arzt zu zeigen. Dieser kann feststellen, wie gut das Gewebe noch durchblutet ist.

Anne Kohli hat Glück gehabt: Sie kam um eine Amputation herum. Zwar fielen alle Zehennägel ab, doch die Blasen bildeten sich binnen Wochen zurück. Die Zehen färbten sich erst lila, dann gelb und sahen nach einiger Zeit wieder normal aus.

Das Gewebe wird aber wahrscheinlich noch lange kälteempfindlich bleiben. Manche Patienten spürten noch Jahre nach der Erfrierung Kribbeln, Prickeln oder Jucken, sagt Christoph Kruis. "Die Gefahr ist groß, dass an denselben Stellen wieder Erfrierungen auftreten."

Auch Anne Kohli hat in einem Zeh noch kein richtiges Gefühl. Sorgfältig achtet sie nun auf jedes Zeichen einer möglichen Erfrierung: Sobald sie ihre Zehen nicht mehr spürt, hält sie an und wärmt sie - egal ob bei einer Schneewanderung oder beim Stadtbummel.

Erfrierungen sind allerdings längst nicht das Schlimmste, was einem in der Kälte passieren kann: "Viel gefährlicher ist eine allgemeine Unterkühlung", sagt Gebirgsmediziner Hefti. "Bei Erfrierungen muss man unter Umständen amputieren, eine Unterkühlung aber ist lebensgefährlich."

© SZ vom 13.01.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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