Gesellschaftskrankheit Übergewicht:Ein ziemlich dickes Ding

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Übergewicht von Menschen in Industrienationen ist laut einer neuen Theorie nicht nur auf mangelndes Ernährungsbewusstsein zurückzuführen. Es könnte auch eine Art zivilisatorische Vergiftungserscheinung sein.

Hanno Charisius

Was Frederick vom Saal seinen Zuhörern zu sagen hatte, war so beeindruckend, dass einen kurzen Moment lang Ruhe herrschte, bevor sie ihn nach seinem Vortrag mit Fragen überhäuften.

Dick durch hormonartige Substanzen in der Nahrung (Foto: Foto: dpa)

Die wachsende Zahl übergewichtiger Menschen in den Industrienationen hat nicht allein etwas mit persönlichem Fehlverhalten der Betroffenen zu tun, sondern ist vielmehr eine zivilisatorische Vergiftungserscheinung ausgelöst durch Chemikalien, so lautet die These des Neurobiologen von der University of Missouri, über die er am vergangenen Wochenende auf der Jahrestagung der amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (AAAS) in San Francisco referiert hat.

Das muss man erst einmal verdauen: zu Dicke wären demnach gar nicht allein schuld an ihrer Überfülle, sondern stehen unter dem Einfluss von hormonartigen Substanzen, die sie unbewusst mit der Nahrung aufnehmen.

Schuld ist Bisphenol A

Als Hauptschuldigen hat Frederick vom Saal die Substanz Bisphenol A, kurz BPA, ausgemacht. Zu Tausenden in langen Ketten verknüpft, bilden BPA-Moleküle das robuste und vielseitige Polykarbonat. Autoteile und Hausabdeckungen werden daraus genauso gefertigt wie CDs und DVDs, Lebensmittelverpackungen, Brillengläser, Mikrowellengeschirr oder Babyfläschchen.

Beim Erwärmen oder unter Einwirkung von sauren Mischungen können sich einzelne BPA-Moleküle herauslösen und in Lebensmittel oder in die Umwelt gelangen. Im Organismus wirkt BPA ähnlich wie das weibliche Geschlechtshormon Östrogen, das ist bekannt.

In Tierversuchen störte es die Embryonal- und Gehirnentwicklung, verursachte Unfruchtbarkeit, Krebs und Verhaltensstörungen. Nur wie schädlich seine Wirkung für den Menschen ist und wie viel er davon verträgt, ohne Schaden zu nehmen, darüber streiten die Experten (SZ vom 7. Februar 2007).

Vom Saal und seine Kollegen haben schlüssige Hinweise darauf gefunden, dass BPA bereits in kleinen Dosen die Gewichtszunahme fördert. Frauen mit hohen Bisphenolkonzentrationen im Blut sind im Schnitt schwerer als Frauen mit niedrigen Werten. Kinder von stark BPA-belasteten Frauen werden dicker als die von unbelasteten.

Wenn man Mäuse mit BPA füttert, legen sie mächtig an Gewicht zu. BPA, so glauben vom Saal und eine Reihe anderer Wissenschaftler, kann als hormonähnliche Substanz den Stoffwechsel eines Menschen und insbesondere eines Ungeborenen oder Säuglings neu programmieren, vermutlich indem es auf die Art und Weise der Genaktivierung einwirkt. Im Detail kann auch Frederick vom Saal den Mechanismus nicht erklären.

Chemische Produkte als Ursache?

Bisphenol A ist nur einer von zahlreichen so genannten endokrinen Disruptoren, Umweltstoffen, die sich im Körper ähnlich wie Hormone verhalten und den Stoffwechsel durcheinanderbringen.

Bereits vor fünf Jahren haben Wissenschaftler auf einen möglichen Zusammenhang zwischen chemischen Produkten in der Umwelt und dem wachsenden Übergewichtsproblem hingewiesen: Seit die chemische Industrie ihre Produktion in den 1960er Jahren massiv gesteigert hat, wächst auch der Anteil der übergewichtigen Menschen an der Weltbevölkerung so rasant, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits von einem weltweiten Problem spricht.

Natürlich machen die Chemikalien nicht von alleine dick, sagt vom Saal. Der Speckgürtel wächst nur, wenn er reichlich gefüttert und zuwenig bewegt wird. Aber BPA und seine Verwandten führen dazu, dass überschüssige Kalorien effizienter in Form von Fett gespeichert werden.

"Starkes Übergewicht ist nicht nur auf Fehlverhalten zurückzuführen, das man einfach korrigieren kann", sagt vom Saal. Zahlreiche weitere Faktoren spielen eine Rolle. Um das eigene Risiko zu verkleinern empfiehlt vom Saal, jeglichen Kontakt zwischen Kunststoffen und Lebensmitteln zu vermeiden.

© SZ v. 23.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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