Fairplay contra Siegeswillen:"Er ist auf dem Platz nicht schmutzig genug"

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Über die Bereitschaft zur Blutgrätsche entscheidet das Verhalten des Trainers - und wie lange der Spieler schon im Verein spielt. Je länger, umso fieser, zeigt eine Studie.

Nikolas Westerhoff

Nach Fifa-Angaben haben die Nationalspieler Ballack, Frings & Co. während der WM 2006 insgesamt 125 Mal gefoult. Noch ist unklar, auf wie viele Fouls sie bei dieser EM kommen werden.

Der Schiedsrichter zeigt die rote Karte, wenn es allzu unfair zugeht. Viel zu oft gelten Fouls aber als normal im Fußball. (Foto: Foto: dpa)

Psychologen und Sportwissenschaftler erforschen seit Jahren das Fairness-Verhalten von Fußballern. Eine ihrer Erkenntnisse lautet: Der Trainer als Rollenmodell hat großen Einfluss darauf, ob seine Spieler bereit sind, gegen Fairnessnormen - und damit auch gegen Gerechtigkeitsprinzipien - zu verstoßen.

Toleriert der Trainer unfaires Verhalten seiner Spieler, verhalten sie sich eher unfair; duldet er es nicht, agieren sie eher regelgerecht. Von vielen Fußball-Lehrern ist bekannt, dass sie ihre Spieler auffordern, den Gegner hart anzugehen.

Entdecke den Materazzi in dir

Friedhelm Funkel sagte über seine Kicker von Eintracht Frankfurt: "Der Charakter der Mannschaft ist gut, aber er ist auf dem Platz nicht schmutzig genug. Da muss man den Gegner auch mal verbal attackieren, ihn provozieren, ihn beschimpfen."

Man kann solche Kraftmeier-Sprüche amüsant finden. Die pädagogische Botschaft dahinter lautet jedoch: Entdecke den Materazzi in dir. Zeige, dass du ein Eisenfuß bist. Solche Sprüche sind Fußball-Folklore - und zugleich geben sie den Blick frei auf das grundlegende Dilemma des Fußballsports. Nirgendwo sonst stehen sich nämlich zwei konkurrierende Normen so unversöhnlich gegenüber wie auf dem Fußballplatz. Leistungsnorm und Fairnessnorm ringen miteinander. Doch egal was passiert, am Ende gewinnt stets die Leistungsnorm. So unfair kann Fußball-Ethik sein.

"Das weite Feld des Sports scheint geradezu prototypisch für widersprüchliche Erwartungen verschiedener Normsender zu sein", sagt Sportwissenschaftler Andreas Hoffmann von der Universität Stuttgart. "Einerseits ist es geprägt vom sogenannten olympischen Gedanken mit Ideen der Friedenserziehung, Völkerverständigung und des Fairplays. Andererseits provoziert die klassische Sieg-Niederlage-Kodierung die Norm einer absoluten Erfolgsorientierung."

Eigentlich sollen Kinder, die Fußball im Verein spielen, positive Werte wie Fairness und Respekt vor dem Gegner vermittelt bekommen. Gleichzeitig sollen sie erfolgreich sein. Und diese beiden Normen sind nun mal nicht in Einklang zu bringen, wie eine Studie des Sportwissenschaftlers Gunter Pilz von der Universität Hannover schon vor Jahren belegt hat.

"Fairplay wird viel zu hoch gehängt"

Pilz hatte 1000 Fußballer zwischen 12 und 14 Jahren zu ihrem Fairness-Verständnis befragt. Dabei zeigte sich, dass die Bereitschaft der jungen Sportler, ein absichtliches Foul zu begehen, mit der Dauer der Vereinsmitgliedschaft zusammenhing. Je länger jemand im Verein kickte, desto eher war er bereit, unfair zu spielen. Zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangte der Sportpsychologe Hartmut Gabler, der gleichfalls 1000 Jugendliche befragte. Je größer der Wettkampfcharakter des Fußballs, so Gabler, desto irrelevanter werden Fragen der Fairness.

Von Fairness und Respekt fehlt irgendwann jede Spur. Nach Ansicht von Pilz lernen junge Fußballer, "dass es akzeptabel, ja sogar geboten ist, Regeln im Interesse des Erfolgs zu verletzen". Pilz zitiert einen C-Jugend-Auswahltrainer mit den Worten: "Fairplay wird viel zu hoch gehängt. Ich werde dafür bezahlt, erfolgreich zu sein und da kann ich keine Rücksichten auf Fairplay-Bemühungen nehmen."

Wenn sich Trainer so äußern, verwundert es nicht, dass C-Jugendspieler Sprüche wie diese von sich geben: "Ich werde lieber unfair Meister als fair Letzter." Oder: "Fairness bedeutet nach Möglichkeit, fair zu spielen und wenn es sein muss, fair zu foulen." Faires Foul - das ist ein Gegensatz in sich. Dieser semantische Widerspruch versinnbildlicht das moralische Dilemma des Sportlers: Dass er beides zugleich sein soll, nämlich fair und erfolgreich, beides aber nicht gleichzeitig einlösen kann.

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Wie Untersuchungen belegen, unterscheiden Trainer und Spieler zwischen "fairen" und "unfairen" Fouls. Faire Fouls sind taktisch motiviert und werden von Trainern gefordert oder gar gewürdigt. Unfaire, also brutale Fouls lehnen die Übungsleiter mehrheitlich ab. Foul ist nicht gleich Foul - so lautet die Doppelmoral des Fußballs.

2002 konnte Gabler nachweisen, dass Fußballer taktische Regelverstöße wie Notbremsen, Schwalben und Zeitspiel zwar als regelwidrig einstufen, aber nicht als normverletzend. Die Logik des Fußballers klingt so: Es entspricht zwar nicht der Regel, ein Foul zu begehen, aber der Norm.

Wer aber legt diese Norm fest? In einer Fragebogenstudie hat Hoffmann vor kurzem 547 Jungfußballer folgendes Szenario beurteilen lassen: "Bei einem Fußballspiel rennt ein Gegner eine Minute vor Spielende auf euer Tor zu, wo er eine sehr gute Schussposition erreicht. Du befindest dich hinter ihm und kannst ihn nur durch ein Foul stoppen." Die Frage lautete, unter welchen Bedingungen die Nachwuchs-Spieler bereit waren, zu foulen? Fast acht von zehn Jugendlichen würden foulen, wenn ihre Mannschaft abstiegsbedroht wäre. In einem Freundschaftsspiel würden 22 Prozent foulen.

Am Ende ist der Mann mit der Pfeife schuld

42 Prozent der Kinder geben sogar an, dass sie unter den Augen ihrer Eltern foulen würden. Sitzen Papa und Mama im Stadion, langt der Sprössling gerne mal hin. Selbst aggressive Zuschauersprüche wie "Hau ihn um!" stacheln Jugendliche nicht so stark zu unfairem Verhalten an wie die Präsenz der Eltern. Unter deren Blicken möchten Kinder offenbar unbedingt als erfolgreich dastehen. Welcher Vater würde sich brüsten, dass sein Sohn der fairste E-Jugendspieler des Vereins ist? Es greift folglich zu kurz, den Trainer allein für das unfaire Verhalten junger Sportler verantwortlich zu machen.

Denn einen Grund für fehlende Fairness gibt es nicht. Mario Herrmann, Claudia Dalbert und Oliver Stoll von der Universität Halle ließen 117 Fußballspieler aus 14 Vereinen einen Fragbogen ausfüllen. Darin fanden sich Aussagen wie: "In der letzten Saison habe ich versteckte Fouls begangen", "In entscheidenden Situationen bin ich bereit, ein Foul zu begehen". Gleichzeitig wurde erfasst, ob sich Spieler von Trainern und Schiedsrichtern gerecht behandelt fühlen.

Dabei zeigte sich, dass jene Spieler besonders oft gegen Fairnessregeln verstießen, die Schiedsrichter als ungerecht empfanden. Fairen Fußball gibt es also nur, wenn der Referee als fair erlebt wird. Klar, dass am Ende der Mann mit der Pfeife schuld ist.

© SZ vom 17.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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