Expeditionen zum Nordpol:"Manche wünschten mir den Tod"

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Vor 100 Jahren stand angeblich der erste Mensch am Nordpol - heute werden Abenteurer oft angefeindet. Thomas Ulrich über seine Arktis-Expedition.

Birgit Lutz-Temsch

sueddeutsche.de: Die Welt ist entdeckt - wozu braucht man heute noch Expeditionen?

Thomas Ulrich im Eis - heute werden Abenteurer mitunter nicht mehr als Helden gefeiert. (Foto: Foto: Visual Impact /Uli Wiesmeier)

Thomas Ulrich: Mit solchen Unternehmungen kann man Menschen motivieren, auch mal was anzupacken - egal was. Aber ich stehe dazu, dass ich intensive Erlebnisse in der Natur und meine Grenzen erfahren will. Natürlich ist das purer Egoismus, das braucht niemand. Für viele ist das absolut nicht nachvollziehbar. Aber ich nehme deswegen nicht als Deckmantel einen Wissenschaftler mit, der dann die Eisdicke misst oder so, um meine Vorhaben auf eine Art zu rechtfertigen.

sueddeutsche.de:Was treibt Sie dazu, sich in Gefahr zu begeben?

Ulrich: Ich suche nicht die Gefahr oder den Tod, sondern intensives Erleben. Wenn man Grenzgänge hinter sich hat, nimmt man bewusster wahr, wer und wie klein man ist, als wenn alles immer ruhig durch die Butter fließt. Und die Arktis ist etwas sehr Mystisches.

sueddeutsche.de: Was ist dort so besonders?

Ulrich: Es ist seltsam, wie man da hineingezogen wird. Ich habe in den Bergen nie so etwas Intensives erlebt wie in der Arktis. Du stehst auf diesem riesigen Eis und weißt, der nächste Mensch ist mehr als tausend Kilometer entfernt; unter dir sind 4000 Meter Wasser. Alles ändert sich ständig, der Himmel, das Licht. Viele vermuten, es sei langweilig im Eis, aber das stimmt nicht. Die ganze Wahrnehmung verändert sich, und man spürt immer wieder eine unglaubliche Freude.

sueddeutsche.de: Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte das Wettrennen zum Nordpol den Höhepunkt. Gleich zwei Abenteurer beanspruchten, der Erste gewesen zu sein: Die US-Amerikaner Cook und Peary. Wer war Ihrer Meinung nach der Erste?

Ulrich: Ich würde sagen, dass Peary derjenige war, der in einer gewissen Nähe des Nordpols war - in der damaligen Zeit war das Navigieren nicht so einfach mit Sextanten. Er ist sehr professionell an die Sache rangegangen und war gut vorbereitet. Wenn man allerdings seine Geschichte liest, mit den Strecken, die er da zurückgelegt haben will - da sind schon utopische Sachen dabei, die Fragezeichen aufwerfen.

sueddeutsche.de: Wie ehrlich sind die um Sponsoren und Aufmerksamkeit konkurrierenden Berufsabenteurer heute?

Ulrich: Das ist heute im Grunde nicht anders wie damals: Expeditionsergebnisse sind sehr wichtig. Mit dem, was da so kommuniziert wird, habe ich manchmal schon so meine Mühe. Als ich zu meiner Arktis-Solo-Überquerung aufgebrochen bin, sind gleichzeitig mit mir noch andere Expeditionen gestartet. Die haben sich alle aufs Eis rausfliegen lassen, weil das Eis in Küstennähe nicht gut war. Auf deren Internetseiten stand später: Expedition vollendet - aber meiner Ansicht nach haben die überhaupt nichts erreicht. Das zermürbt schon, wenn man jemand ist, der Ehrgeiz hat und ehrlich ist.

sueddeutsche.de: Ihr Ehrgeiz hätte sie fast das Leben gekostet . . .

Ulrich: Aber das ist eben meine Haltung: Wenn ich eine Arktisdurchquerung mache, muss ich am Land starten und bis zum Land gehen. Wenn ich mich hätte rausfliegen lassen, hätte ich nie kommuniziert, dass ich den Nordpol zu Fuß erreicht habe. Das würde absolut gegen meine ethischen Grundsätze verstoßen. Andere haben weniger Skrupel.

sueddeutsche.de: Wie ist Ihr Versuch abgelaufen?

Ulrich: Ich bin schon anfangs in offenes Eis in einer riesigen Wasserrinne geraten - über die sich die anderen haben ausfliegen lassen. Dann kam ein Sturm auf, und alles ist noch weiter aufgebrochen. Ich bin auf einem Mosaik aus Eisschollen herumgehüpft. Ich verdanke mein Leben meinem russischen Unterstützer Viktor Boyarsky, der so lang mit den Behörden stritt, bis sie noch in der Nacht Hubschrauber starten ließen, um mich rauszuholen.

sueddeutsche.de: Früher wurden die Abenteurer als Helden gefeiert, heute erklärt man Sie oft für verrückt. Was passierte nach Ihrer Rückkehr?

Ulrich: Ich habe sehr viel negative Kritik bekommen, sogar anonyme Briefe. Nicht wenige wünschten mir, ich hätte doch umkommen sollen, so blöd wie ich sei. Einer schrieb mir, es sei schade, dass kein hungriger Eisbär mit mir auf der Scholle war, ein anderer, ich hätte verrecken sollen. Wörtlich.

sueddeutsche.de: Beschäftigt Sie das?

Ulrich: So was sollte natürlich an einem abperlen. Aber es hat mich doch getroffen. Ich war dem Tod sehr nah gewesen - und dann wünschte man mir hinterher, dass ich wirklich jämmerlich erfrieren und ertrinken hätte sollen. Ich war auf alles vorbereitet - aber nicht auf ein Scheitern. Das war ein Hammer.

sueddeutsche.de: Was waren die Kritikpunkte?

Der Schweizer Abenteurer Thomas Ulrich wagte sich 2006 alleine an eine Arkits-Überquerung. Er scheiterte dramatisch. (Foto: Foto: Visual Impact / Uli Wiesmeier)

Ulrich: Frauen differenzierten und mahnten meine Verantwortung gegenüber meiner Familie an. Viele Männer beschimpften mich einfach. Eine große Rolle spielten die Kosten: Das Geld sollte man doch lieber in Afrika ausgeben. Na ja, ich finde es nicht so schlecht, dass ich es in Sibirien gelassen habe. Meine Rettung habe ich selbst bezahlt, und meine Retter haben einen ordentlichen Bonus bekommen. Abgesehen davon war das für die kein so großes Ding. Menschen die in der Arktis unterwegs sind, vor allem die Russen, sind einfach ein bisschen andere Sachen gewöhnt

sueddeutsche.de: 2007 sind Sie mit dem Norweger Borge Ousland vom Nordpol gestartet und auf den Spuren von Fridtjof Nansen und Hjalmar Johansen zurück bis Norwegen gegangen und gesegelt. Was war das für ein Gefühl, als Sie am Nordpol ausgesetzt wurden?

Ulrich: Als der Hubschrauber weg war, hatten wir den Arktischen Ozean für uns. Das war schon ein schönes Gefühl. In gewissen Momenten auch beklemmend, fast klaustrophobisch. Man fühlt sich gar nicht so, als hätte man viel Platz, man fühlt sich sogar ein bisschen eingeengt. Auf der anderen Seite auch wieder privilegiert, weil man alleine da draußen ist.

sueddeutsche.de: Wann haben Sie das erste Mal Land betreten?

Ulrich: Nach 45 Tagen haben wir die Eva-Liv-Insel erreicht, also auch da, wo Nansen 1895 Land betreten hat. Wir wollten diese Expedition unter ähnlichen Verhältnissen wie Nansen machen, sind also spät am Nordpol gestartet, damit wir zwischen den Inseln Franz-Josef-Lands nicht auf landfestes Eis treffen, sondern auf die gleichen Schwierigkeiten wie Nansen und Johansen damals, die auch immer wieder in Kajaks steigen mussten.

sueddeutsche.de: Aber wenn man es wirklich nachmachen wollte, müsste man ja auch mit alter Ausrüstung starten - können Sie sich das vorstellen?

Ulrich: Ich habe mit zwei Freunden schon die Eigernordwand mit der gleichen Ausrüstung bestiegen wie Heckmair und seine drei Jungs. Das war ein kreatives Projekt für mich. Ich hab mir auch überlegt, eine solche Expedition zu machen, aber wenn man weiß, wie schön man es haben kann - dann in einem Rentierdoppelschlafsack mit Borge zu schlafen, ich weiß nicht, ob ich da nicht lieber doch wieder die moderne Ausrüstung haben würde! Und Nansen oder Peary hätten auch ein Satellitentelefon mitgenommen, wenn es das gegeben hätte - die hatten damals auch immer die aktuellste und neueste Ausrüstung.

sueddeutsche.de: Wie schwierig ist es, eine solche Expedition auf die Beine zu stellen?

Ulrich: Wir haben drei Jahre lang versucht, eine Genehmigung zu bekommen, sogar die schweizerischen und norwegischen Botschafter haben uns geholfen, und keiner hat es geschafft. Dann sind wir einfach ohne los.

sueddeutsche.de: Sie sind ohne Genehmigung nach Franz-Josef-Land?

Ulrich: Ja. Wir wollten uns in dem Naturraum nicht einschränken lassen, wir dachten, der Nansen hat niemanden gefragt, warum sollten wir jetzt fragen. Wir haben dann auf unserer Internet-Seite irgendwann unsere Position nicht mehr richtig angegeben, damit die Behörden uns nicht finden konnten. Aber kurz vor dem Betreten des russischen Bodens haben wir dann doch noch eine Bewilligung erhalten.

sueddeutsche.de: Wie war der Weg vom Nordpol bis Franz-Josef-Land?

Ulrich: Das war zeitweise sehr schwierig und gefährlich. Einige Tage sind wir mit dem Notsender am Körper marschiert. Franz-Josef-Land zu durchqueren war unglaublich spannend, denn natürlich haben wir vielfach Orte betreten, an denen noch überhaupt niemand vor uns war außer eben Nansen und Johansen. Wir sind nur Eisbären, Walrossen, Vögeln begegnet. Was für ein wundervolles Naturreservat das ist!

sueddeutsche.de: Wie haben Sie sich mit Borge Ousland verstanden?

Ulrich: Wir sind grundsätzlich ein sehr gutes Team und ergänzen uns bestens. Er hat eine Riesenerfahrung, vor allem im arktischen Eis. Bei uns kann sich jeder zurücknehmen, dort wo der andere sehr gute Fähigkeiten hat. Das ist ein Geben und Nehmen. Man kann auch nicht darüber diskutieren, wer nun auf welcher Seite schläft ...

sueddeutsche.de: Nach so langer Zeit zusammen - entwickelt man da gemeinsame Rituale?

Ulrich: Na ja, wir hatte ja eine sehr strikte Struktur, eigentlich ist so eine Expedtion schon fast militärisch organisiert - aber so muss das auch sein. Dass man nicht morgens aufwacht und sagt, jetzt schlafen wir eine Stunde länger. Das Wichtigste ist Effizienz - deshalb macht jeder am besten immer die gleichen Handgriffe, dann wird man immer schneller.

sueddeutsche.de: Gab es einen Moment, an dem Sie sich nicht mehr sehen konnten?

Ulrich: Nein. Nur auf Kap Flora, im Süden Franz-Josef-Lands, als wir drei Wochen auf unser Segelschiff warten mussten, hatten wir nichts mehr zu sagen. Da waren wir sehr lange einfach still, aber nicht im negativen Sinn. Dann haben wir jeden Tag abwechselnd Touren gemacht und einer blieb beim Camp - dann hatten wir auch ein bisschen unsere Privatsphäre zurück.

sueddeutsche.de: Auf Kap Flora kam es dann zu einem denkwürdigen Ereignis ...

Ulrich: Ja! Wir waren schon eine Woche auf Kap Flora, da hörten wir auf einmal ein seltsames Geräusch, und als wir aus dem Zelt krochen, stand da ein riesiger orangefarbener Eisbrecher. Wir dachten, jetzt haben sie uns, die Russen. Das war dann ein bisschen brenzlig, aber nach ein paar Telefonaten war das auch erledigt.

sueddeutsche.de: Was wollte der Eisbrecher? Ulrich: Der hatte Touristen an Bord. Das war vielleicht schräg. Wir kamen vom Nordpol, waren seit Wochen unterwegs in dieser Weite, nur zu zweit. Und dann fliegen die da 150 Amerikaner mit dem Helikopter nach Kap Flora, und die dachten zum Teil wohl, die Russen hätten uns da aufgestellt, damit sie sehen, wie eine Expedition aussieht. Ein paar sind richtig in unser Zelt gekrochen und haben Fotos gemacht, ohne zu fragen, als wären wir Ausstellungsobjekte. Das dauerte eine Stunde, dann sind sie wieder weggeflogen und wir waren wieder allein.

sueddeutsche.de: Wie ist nach 113 Tagen im Eis die Rückkehr nach Hause?

Ulrich: Gerade bei so einer langen Expedition merkt man, wie einfach man leben kann - man hat alles dabei, was man braucht. Manchmal ist es dann nicht so einfach, wieder in das normale Leben zurückzufinden. Nicht, dass es ein Schock wäre. Aber es ist nicht einfach.

Die Erfahrungen seiner Arktis-Solo-Expedition und der Expedition vom Nordpol nach Norwegen auf den Spuren Fridtjof Nansens hat Thomas Ulrich zusammen mit der Autorin Christine Kopp in einem Buch festgehalten: Horizont Nord, erschienen im Verlag Thomas Ulrich Visual Impact GmbH.

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