Cricket:Baseball auf Valium

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Weißer Sport auf grünem Grund: eine kleine Ode an Cricket, diese eleganteste Form der Zeitvernichtung.

Christopher Schmidt

Der Mann war niedergeschlagen, seine Mannschaft hatte das Vorrundenspiel gegen Neuseeland verloren. Und er tat, was Männer tun, wenn ihre Mannschaft verloren hat. Er betrank sich. Heillos. Dann fuhr er mit einem Tretboot aufs Meer hinaus und musste geborgen werden. Daraufhin wurde er für das nächste Spiel gesperrt beim World Cup, um den zur Zeit 16 Nationen in der Karibik kämpfen.

Unter 30 Grad ziemt es sich, zum Spielen einen Wollpullunder anzulegen. (Foto: Foto: Istockphoto)

Denn der Havarist im Tretboot ist Cricket-Profi, Vize Captain der englischen Nationalauswahl und auf dem Rasen ein Gott. "Ja, es war Wasser im Spiel", gab ein zerknirschter Andrew Flintoff zu. Zeugenaussagen, wonach seine Kameraden bei ihrer drinking session im Nachtclub sich in ihrem Jammer gegenseitig mit Liebkosungen getröstet hätten, wollte er jedoch nicht bestätigen.

Cricket ist nichts für schwache Nerven. Gegen die Ekstasen dieses Sports gleicht ein Herzschlag-Finale beim Fußball einem Meditationskreis. Denn mit einigen wohlplatzierten Strokes kann ein machtvoller Schlagmann ein schon verloren gegebenes Spiel jederzeit umdrehen. "Great Chase" nennt man diese Aufholjagd. Weil bis zur letzten Minute beim Cricket nichts entschieden ist, kochen die Emotionen gerne mal über.

Doch auf diese letzte Minute muss man lange warten - acht Stunden dauert ein One Day Match. Und das sind die kurzen, schnellen Spiele!

Habe ich schon erwähnt, dass eine Cricket-Partie eigentlich fünf Tage dauert? Und dass danach nicht unbedingt ein Sieger ermittelt ist, weil das Spiel unentschieden ausgehen kann? Kein Wunder, dass die ersten Cricket-Zuschauer Schafe waren. Sie dienten einfach als Rasenmäher, damals, im schönen Süden Englands, wo Cricket seine Wurzeln hat.

Die kollektiven Wallungen, die Backspins, Luftwiderstandskoeffizienten und Rücktriftwirbel bei den Anhängern des Cricket auslösen, gehören zu den ungelösten Geheimnissen der englischsprechenden Welt. Was treibt Zehntausende dazu, sich tagelang in ein Stadion zu pferchen? "Cricket ist Baseball auf Valium", spottete der Komiker Robin Williams. Und es war bereits auf dem besten Wege, zu einem historischen Kuriosum herabzusinken, einem Epiphänomen der Kolonialgeschichte. Dabei ist ja gerade das Schöne am Cricket, dass es nicht in die heutige Zeit passt und dass dieser Anachronismus trotzdem Leidenschaften befeuert, die alle Lügen strafen, die im Cricket nur eine Art bizarres Rasenschach für Collegeschnösel sehen.

Da ist zum Beispiel das dramatische Duell zwischen dem Bowler und dem Batter. Im Januar schmetterte ein Schlagmann in Australien den Ball mühelos über die höchste Tribüne hinweg, hinein in eine Würstchenbude außerhalb des Stadions, deren Verkäufer von dem Geschoss gleichsam gefällt wurde. Der Bat ist die Spätform des Bihänders aus dem Mittelalter - bis wohin sich die Anfänge des Cricket zurückverfolgen lassen. Er wird aus einem einzigen Stück Weidenholz gefertigt und vor dem ersten Einsatz gestimmt wie eine Stradivari, indem man immer wieder einen weichen Ball auf der Schlagfläche auftippen lässt. "Knocking in" nennt man diese endlose Prozedur.

Mit diesem archaischen Kloben verteidigt der Batsman das Wicket, die symbolische Burg, die der angreifende Bowler zu schleifen versucht. Sie besteht aus drei in den Boden gerammten Holzpflöcken, den Stumps, deren obere Enden kleine Vertiefungen aufweisen, in denen die Bails, die Querhölzchen, liegen. Gelingt es dem Bowler, mit seinem Ball das Wicket zu zerstören, also die Bails abzuwerfen, ist der Batsman out und der Nächste an der Reihe, bis alle gegnerischen Spieler ausgebowlt sind.

Cricket hat keine Regeln, es wird durch Gesetze bestimmt, die heiligen Laws of Cricket, die im Jahr 1744 kodifiziert wurden und ins Reich der hermetischen Literatur gehören. Willkommen im Irrsinn der Cricket-Welt! Versuchen Sie gar nicht erst, dieses Spiel zu verstehen; selbst Kenner haben mitunter nur eine vage Ahnung, was gerade auf dem Feld vor sich geht. Was der Begeisterung naturgemäß keinen Abbruch tut.

Die sicherste Art zu verhindern, dass die gegnerische Mannschaft Runs erzielt, ist es, den vom Batter geschlagenen Ball aufzufangen, bevor er den Boden berührt, denn dann ist der Batsman ebenfalls out. Und sich dabei nicht sämtliche Finger zu brechen. Wer meint, die neun Feldspieler, die wie einbetoniert auf ihren Positionen verharren, würden im Stehen schlafen, wird in solchen Momenten eines Besseren belehrt.

In einer Disziplin, bei der zwischen den Spielzügen mitunter so viel Zeit verstreicht, dass immer wieder abgebrochen werden muss, weil sich in der Zwischenzeit zu viele Tauben auf der 20 Meter langen Pitch niedergelassen haben, geht dann auf einmal alles blitzschnell. Nur wer in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung trifft, kann hier bestehen. Technik und Strategie sind alles. Cricket bannt die Komplexität der Welt in die Geometrie des Spielfeldes und ein Regelwerk, das den Zufall nahezu beherrschbar macht.

Die Pitch, deren Enden von den Wickets begrenzt werden, gleicht einer Thingstätte, sie ist das moderne Stonehenge, auf dem eine heidnische Messe zelebriert wird.

Es ist Glaubenssache. Zum Beispiel der hochscholastische Streit zwischen den Vertretern verschiedener Wurftechniken. Abgesehen davon ist Cricket immer ein willkommener Vorwand, übers Wetter zu reden. Die Luftfeuchtigkeit hat schließlich maßgeblichen Einfluss auf die Flugeigenschaften des Balls. Und natürlich springt er anders von feuchtem Boden ab als von trockenem. Reden wir gar nicht erst vom Sonnenstand.

Cricket war lange in den ehemaligen Kolonien populärer als im Mutterland. Doch mittlerweile finden sogar die Briten wieder Gefallen an ihrem Exportschlager, den ein Sportreporter einmal als Zement des britischen Empires bezeichnet hat. Noch heute gibt es bezaubernd altmodische Elemente im Spiel, die auf seine Vergangenheit als Zeitvertreib müßiger Aristokraten verweisen: die blütenweißen Hemden und Beinkleider bei den Test Matches, die nicht vermuten lassen, dass man sich hier auch mal in den Dreck wirft. Und die Zopfmuster-Pullunder, die sich die Spieler überziehen, sobald das Thermometer unter 30 Grad fällt.

Cricket ist eine der wenigen Sportarten, bei denen man korrekt angezogen ist, komplett mit Mütze und Sonnenbrille. Oder der förmliche Handschlag, mit dem sich die beiden Batsleute zu ihrer "Partnership" gratulieren, wenn einer von ihnen hundert Runs eingeheimst hat. "Century" nennt man diese hundert Punkte - in der Cricket-Zeitrechnung misst man halt in "Jahrhunderten". Wunderbar antiquiert wirkt die franziskanische Selbstverleugnung, welche die Spieler an den Tag legen, wenn sie noch den unterirdischsten Gegner loben.

Muss man einen Sport nicht allein schon dafür lieben, dass eine Runde, in der kein Treffer erzielt wird, "Jungfrau" heißt, die Unterbrechung "Tee Pause" und zwei Feldpositionen "bescheuerter innerer Mittelfeldspieler" und "bescheuerter äußerer Mittelfeldspieler" genannt werden? Und dann sind da noch die Umpires, die Schiedsrichter, mit ihren breitkrempigen Hüten und ihrem Stoizismus. Mit größter Würde halten die Umpires die Mütze des Bowlers, solange er an der Reihe ist. Bei diesem Ritual handelt es sich um eine symbolische Demutsgeste. Als im 19. Jahrhundert Schiedsrichter eingeführt wurden, protestierten die Spieler, ein Gentleman wisse selbst am besten, was unsportliches Verhalten sei.

Für die Vertreter der heutigen spaßbetonten Fankultur ist Cricket kein Sport, sondern ein Bekenntnis. Es geht um "Passion", nicht um "Fashion". Trotzdem fassen sie ihr Selbstverständnis so zusammen: "Wir lieben unseren Sport, aber wir nehmen ihn kein bisschen ernst." Im Stadion prallen Tradition und Erneuerung aufeinander: Auf der einen Seite sitzen die Fundamentalisten unter Sonnenschirmen bei Gurkensandwiches und Tee und spenden detachiert Applaus. Auf der anderen Seite bespritzen sich Jugendliche mit Bierfontänen.

Dass Cricket viel mehr ist als eine exzentrische Laune der Sporthistorie für anglophile Pullunderträger und Ideologen der Entschleunigung, beweisen vor allem die Spieler selbst. Denn es ist nicht ganz einfach, mit einem unförmigen Stück Holz in der Hand, das einem prähistorischen Ruderblatt ähnlicher sieht als einem zeitgemäßen Sportgerät, eine passable Figur zu machen. Und die Spieler werden nicht nur sehr genau beobachtet, sie sind nahezu gläsern. Die vielen Spielunterbrechungen erlauben es den Statistikern, jeden Spielzug analytisch aufzurastern, um den Nachgenuss an den so kurzen Aktionen mit modernen Mitteln zu verlängern.

Aber wenn die Batsleute ihre Visiere öffnen und sich lässig auf ihren Bat lehnen, muten sie immer noch an wie stolze Recken, Meister des Langschwerts in einer Turnierpause. Selbst den nötigen Sonnenschutz setzen sie gezielt ein; die fettige Zinksalbe in ihren Gesichtern ist eine Kriegsbemalung. Sie soll dem Gegner bedeuten: Ich habe mich so dick eingeschmiert, weil ICH als Letzter - und also als Sieger - vom Platz gehen werde! Wenn ein Kommentator verzückt ausruft: "This man is a beauty", will er damit übrigens nicht sagen, dass dieser Spieler eine Schönheit sei, sondern dass seine sportliche Darbietung eine Augenweide ist. Und "lovely bowling" bedeutet nicht "liebliches Kegeln", sondern: "herrliche Hereingabe".

Vergangenen Sonntag ist der pakistanische Coach tot aufgefunden worden. Seine Mannschaft war beim World Cup ausgeschieden. Aufgebrachte Fans hatten daraufhin sein Bildnis verbrannt. Wer bei uns versucht, seinen Mitmenschen nahezubringen, worum es beim Cricket geht, muss sich leider Sätze anhören wie: "Cricket? Ach ja, das mit den Pferden."

© SZ am Wochenende 24.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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