Bridge Day:Springen unter scharfer Bewachung

Lesezeit: 4 min

Für sechs Stunden gelten in West Virginia andere Gesetze: Beim Bridge Day stürzen sich Basejumper aus aller Welt in 300 Meter Tiefe.

Verena Wolff

"Three, two, one, see ya!" schallt es von den Tausenden Zuschauern auf der Brücke. Kurz halten sie den Atem an - und schauen gebannt auf die kleine Plattform, auf der einer der Springer steht.

Der freie Fall - ein erhabenes Gefühl (Foto: Foto: West Virginia Tourism)

Er lehnt sich nach vorn und fällt - fliegt. Die Zeit scheint stehenzubleiben - die paar kurzen Sekunden, die sich der Springer im freien Fall befindet, kommen den Zuschauern viel länger vor. Den Springern auch.

Doch dann sehen die Extremsport-Begeisterten aus ihrer Vogelperspektive von der Brücke über den New River in West Virginia, wie sich der bunte Fallschirm öffnet. Alles ist gut, der Springer landet - am markierten Haltepunkt auf einem Parkplatz neben dem Fluss - oder, wenn die Richtung nicht stimmt, auch schon mal im Fluss.

Basejumper heißen die Sportler, die sich von Gebäuden, von Antennen, Brücken und Klippen (Base: Buildings, Antennas, Spans und Earth) stürzen. Ein bisschen verrückt sind sie. Das behaupten sie sogar von sich selbst. Aber: Sie können einfach nicht anders. Denn das Adrenalin fließt nicht nur, es pumpt, wenn sie springen.

Die "heiße" Location

Die meisten Gebäude und Türme in den meisten Ländern der Welt sind für die Springer off limits, tabu - sie dürfen weder rein, rauf noch runterspringen. Manche setzen sich über die Verbote hinweg. "Die meisten springen allerdings lieber legal", sagt Frank Richter, der seit zehn Jahren mit seinen speziellen Base-Fallschirmen von Gebäuden und Brücken springt.

Viele Basejumper haben einen festen Termin im Kalender: den Bridge Day, Ende Oktober, im US-Staat West Virginia.

Denn auch in den USA ist das Springen an vielen Orten verboten. Für sechs Stunden jedoch gelten andere Gesetze: "Zwischen neun und 15 Uhr ist die Brücke legal", sagt Richter. "Heiß" bleibt diese Location. So nennen Baser einen Ort, bei dem die Bewachung besonders scharf ist.

876 Fuß hoch ist das Bauwerk in diesem ländlichen, kleinen Staat im Süden der USA - das sind knapp 300 Meter. Die zweitgrößte Brücke der Welt mit nur einem Bogen überspannt den oft rauschenden New River. Wenn der Fluss viel Wasser führt, haben dort abenteuerlustige Menschen in Schlauchbooten ihren Spaß - sie raften, solange die Arme mitmachen. Am Bridge Day allerdings sind auch die geübtesten Bootsfahrer nur Zuschauer, denn an diesem Tag steht alles auf Sprung.

Auf und an der Brücke finden sich in schöner Regelmäßigkeit mehr als 100.000 Menschen ein, die den Springern zuschauen. Am Bridge Day ist ganz West Virginia im Ausnahmezustand - und die Staaten herum gleich mit dazu. Die Zuschauer kommen von weither gereist.

Einige Sekunden im freien Fall ist das höchste der Gefühle für die Springer. Dann ziehen sie die Reißleine und schweben einem riesigen Punkt am Ufer entgegen. Von oben sieht er ganz klein aus. Dort angekommen, raffen sie alles zusammen und eilen wieder auf die Brücke. Ihr Ziel: in den sechs Stunden zwischen neun Uhr am Morgen und 15 Uhr so oft wie möglich in die Tiefe zu springen.

Auf der nächsten Seite: Das Leben am seidenen Hightech-Faden.

Am seidenen Hightech-Faden

Doch nicht alle Basejumper sind darauf aus, fünf oder zehn Mal zu springen. Einige kommen verkleidet und wollen einfach nur Spaß haben. Die Springer lassen sich in die Tiefe fallen, sie machen Kunststücke in der Luft, und manche geben sich sogar auf der schmalen Plattform in fast 300 Metern Höhe das Jawort, um sich gleich danach gemeinsam in die Schlucht zu stürzen.

Hunderte Männer und Frauen springen von der Brücke - die Veranstalter zählen pro Jahr mehr als 800 Sprünge. Dieses Jahr waren es - weil der Gouverneur von West Virginia es während der Veranstaltung spontan so "anordnete" - über 1000 Sprünge.

Die Faszination: Die Jumper wollen an ihre Grenzen gehen, es "einfach mal ausprobieren". Oder schlicht Spaß haben. Richter kann noch genau sagen, wann ihn das Fieber gepackt hat: "Ich habe Leute gesehen, die von einer Brücke springen. Und da habe ich sofort gewusst, dass ich das auch machen muss."

Gesagt, getan. Er lernte Fallschirmspringen. Doch das Springen und Fliegen aus einem Flugzeug war ihm irgendwann zu langweilig, der Startpunkt zu weit oben. "Von da oben sah die Welt aus wie eine Modelleisenbahn-Landschaft", sagt er. Näher dran ist ihm mittlerweile lieber - da sei die Faszination viel größer. "Als Fallschirmspringer habe ich die Basejumper zuerst für Verrückte gehalten. Nach etwa 70 Sprüngen aus dem Flugzeug habe ich dann ein Video von ihnen gesehen, und nur noch auf Base hingearbeitet."

Dreihundert Meter hoch ist die Brücke über dem New River - ein Klacks im Gegensatz zu ein paar Kilometern Höhe, die Fallschirmspringer vom Flugzeug aus bis zum Boden haben.

Dreihundert Meter sind nur ein paar Sekunden im freien Fall. Und dann muss alles gutgehen. Ein Fehler wird schlimmstenfalls mit dem Tod bestraft. "Ich bin äußerst penibel mit meinem Schirm", sagt Richter, der genauestens packt und faltet. Neue Springer brauchen mehr als eine Stunde, um ihren Schirm nach einem Jump wieder zusammenzulegen. Auch der Erfahrene braucht 45 Minuten: "Ich bin einfach sehr genau", sagt Richter. Denn an den wenigen Quadratmetern Hightech-Material hängt sein Leben.

Massen von Adrenalin

Und warum macht er das? Warum fährt er bis nach West Virginia, um sich dort wiederholt von einer Brücke zu stürzen? "Wir nennen das den Ground Rush", sagt er. Das Gefühl, wenn der Boden näher und näher kommt und die Zeit stehenzubleiben scheint. Irre sei das. "Der Körper schüttet dann Massen von Adrenalin aus."

Und außerdem: "Es ist traumhaft schön dort, wenn sich die Bäume in allen Farben zeigen und die Sonne lacht." Das tut sie meistens, wenn Bridge Day ist. Denn zwar gehört West Virginia nicht zu den Neuengland-Staaten, die bekannt sind für ihren farbenfrohen Indian Summer. Doch der dichtbewaldete Staat westlich der Hauptstadt Washington steht den Farben Neuenglands in nichts nach.

Doch auch wenn das Wetter schön ist, kann der oft böige Wind den Springern einen Strich durch die Rechnung machen. Sie driften ab, sie landen im Wasser oder im Wipfel eines Baumes am Uferrand. Dann müssen sie erst befreit werden, ehe sie sich ans Falten des Fallschirms machen und schnell an den Startpunkt zurückeilen, um sich noch mal in die Tiefe zu stürzen.

"Idealerweise", sagt Frank Richter, "hat man so viele Fallschirme dabei, wie man Sprünge machen will". Das ist die Theorie. Doch ein Fallschirm kostet um die 3000 Euro und wiegt acht Kilo. Dazu Helm und Schoner, die Richter immer dabei hat. Richter reist mit drei Sets. "Mit dem reduzierten Freigepäck auf internationalen Flügen passen dann noch ein paar T-Shirts und ein paar Unterhosen in den Koffer."

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: