Aids-Bekämpfung:Sex und Schweigen

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Sex wäre weniger tödlich, wenn mehr darüber geredet würde. Nicht über fragwürdige Rekorde oder Höchstleistungen. Sondern über Erwartungshaltungen, sozialen Druck und das Rollenverständnis von Mann und Frau.

Werner Bartens

Leid und Todesfälle durch sexuell übertragbare Krankheiten oder ungewollte Schwangerschaften ließen sich womöglich effektiver verhindern: Statt nur auf medizinische Aufklärungskampagnen zu setzen, müssten die gesellschaftlichen Umstände stärker berücksichtigt werden.

Sprachlosigkeit ist gefährlich, mit ihr steigt das Risiko für Leid und Tod. (Foto: Foto:)

Dies belegen neue Erhebungen aus allen Teilen der Welt, die im Fachblatt Lancet von dieser Woche an in einer umfangreichen Serie zusammengefasst werden.

Nach dem jüngsten Bericht der UN und der Weltgesundheitsbehörde WHO sind weltweit 38,6 Millionen Menschen mit HIV infiziert, 4,1 Millionen haben sich im vergangenen Jahr angesteckt.

Zwar breitet sich Aids nicht mehr so rasant aus, wie vor Jahren befürchtet, doch in manchen Regionen steigt die Zahl der Neuinfektionen dramatisch. Zudem werden weltweit 80 Millionen Frauen jährlich ungewollt schwanger. 45 Millionen von ihnen treiben ab.

Dabei werden jedes Jahr 20 Millionen Abtreibungen so dilettantisch vorgenommen, das daran 68 000 Frauen sterben. Für Joy Phumaphi, bei der WHO zuständig für Familiengesundheit, sind diese Statistiken ein "schrecklicher Katalog menschlicher Tragödien".

Als "sauber" oder "unsauber" eingestuft

Eine der Studien im Lancet gibt einen Überblick darüber, wie das sexuelle Verhalten junger Menschen von sozialen Erwartungen beeinflusst wird (Bd. 368, S. 1581, 2006). Cicely Marston und Eleanor King von der London School of Hygiene and Tropical Medicine werteten dazu 268 qualitative Studien aus, die zwischen 1990 und 2004 erschienen sind.

Qualitative Studien versuchen Denkmuster und Weltbilder zu erfassen; sie geben nicht primär Statistiken wieder, sondern Interessen und Interpretationsansätze.

Marston und King identifizierten sieben Schlüsselthemen rund um die Sexualität. "In vielen Ländern sind sie erstaunlich ähnlich", sagen die Forscher.

So trauen sich offenbar junge Leute überall auf der Welt zu, ihr Risiko beim Sex einschätzen zu können. Potenzielle Partner werden anhand unzuverlässiger Kriterien wie Aussehen oder Sozialverhalten als "sauber" oder "unsauber" eingestuft.

Ein junger Brite erklärte seine Maßstäbe: "Wenn sie die erste Nacht schon mit mir schläft, benutze ich ein Kondom. Wenn sie das nicht gleich will und wir weiter zusammen ausgehen, traue ich ihr und nehme keines, wenn es so weit ist."

In den meisten Ländern wird Sex als Beziehungskitt verstanden. Das klingt banal, bedeutet aber, dass sich Frauen oft scheuen, den Geschlechtsverkehr abzulehnen.

Eine Schwangerschaft wird besonders von vielen Frauen in Afrika und Asien als Mittel gesehen, um den Partner zu binden. Sex ist besonders im südlichen Afrika ein Weg, um Geld und Geschenke vom Partner zu erhalten.

"Sind die Augen zu, will sie es"

Kondome hingegen stigmatisieren und erzeugen weniger ein Gefühl von Sicherheit, als Misstrauen. "Wenn mir eine Frau ein Kondom anbietet, käme für mich nie in Frage, sie zu heiraten", sagt ein junger Mann aus Mexiko. "Sie wäre kein gutes Vorbild für meine Kinder." In Südafrika und Uganda gilt der Wunsch, ein Kondom zu benutzen, vielerorts als Zeichen dafür, mit einer ansteckenden Krankheit infiziert zu sein.

Auch die Stereotype über das Geschlechterverhalten unterscheiden sich quer durch die Kontinente kaum: Männer haben demnach sexuell aktiv zu sein und Erfahrungen zu sammeln.

Viele junge Männer fühlen sich offenbar unter Druck, Sex zu haben, egal ob sie ein Kondom dabei haben. Frauen hingegen haben keusch zu sein. Zu viel Sex und zu viele Partner schaden ihrem Ruf.

In Studien aus Nepal und unter Einwanderern aus Puerto Rico in New York zeigte sich, dass schon das Reden über Sex das Ansehen der Frauen minderte. Obwohl es Frauen stigmatisiert, Kondome dabeizuhaben oder einzufordern, wird paradoxerweise weltweit erwartet, dass sie sich um die Verhütung kümmern.

Dass eine Frau Ja meint, obwohl sie Nein sagt, ist ebenfalls ein global verbreitetes Vorurteil. "Eine Frau kann nie klar sagen: Lass es uns machen. Sind die Augen zu, wenn sie weiter Nein sagt, dann will sie es", erklärt ein junger Südafrikaner sein Frauenbild und gibt damit nach Ansicht der Forscher eine typische männliche Einstellung wieder.

Meist vermeiden es junge Leute, überhaupt von Sex zu sprechen. Sie sind gefangen in den Paradoxien ihrer Erwartungen und Tabus. Dieser soziale Druck erschwert die Kommunikation und macht Safer Sex unwahrscheinlich: Männer haben Angst vor Abweisung, Frauen wollen ihren Ruf nicht verlieren.

Diese Sprachlosigkeit ist gefährlich, mit ihr steigt das Risiko für Leid und Tod. Sie erklärt aber auch, warum viele junge Menschen keine Kondome benutzen, auch wenn sie die Risiken kennen und Zugang zu Verhütungsmitteln haben.

In den 268 Studien, die Marston und King auswerteten, ging es um das Sexualverhalten im Alter zwischen zehn und 25 Jahren. Etwa die Hälfte der HIV-Neuinfektionen jedes Jahr betreffen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren.

"Entschieden mehr über sex reden"

Aids kann nach Ansicht der Forscher nur eingedämmt werden, wenn diese Altersgruppe und ihre Sorgen verstanden werden. In bisherigen Programmen gegen Aids wurden zwar häufig kostenlos Kondome verteilt und Aufklärungskampagnen gestartet. Trotzdem war der Erfolg bescheiden.

"Kondome sind wichtig", sagt Marston. "Aber nur Informationen und Kondome zu liefern, ohne entscheidende soziale Faktoren zu berücksichtigen, geht am Kern des Problems vorbei."

Aus Sicht der WHO sind die Erkenntnisse zum Sexualverhalten nicht sehr ermutigend. Weltweit sei zu beobachten, dass Hilfsprogramme weniger unterstützt würden, die Politik sich kontraproduktiv in die Aufklärungsarbeit einmische, und die Themen Sexualität und damit verbundene Erkrankungen vernachlässigt würden, beklagte die WHO diese Woche.

Seit 1995 seien die Mittel, die weltweit jährlich für Familienplanung zur Verfügung stehen, von 560 Millionen auf 460 Millionen Dollar gesunken.

Ehe schützt nicht vor der Infizierung

Trotz weltweit ähnlicher Vorstellungen über das Rollenbild von Mann und Frau sei "das sexuelle Verhalten enorm unterschiedlich", sagt Paul Van Look, WHO-Direktor für den Bereich reproduktive Gesundheit.

In Afrika sei der Altersunterschied zwischen den Sexualpartnern größer, in manchen Ländern südlich der Sahara betrage er durchschnittlich zehn Jahre.

Die Ehe schütze nach einer anderen Lancet-Studie auch nicht vor sexuellen Gesundheitsrisiken: So steigt die HIV-Infektionsrate in Uganda am stärksten bei verheirateten Frauen. In der Ehe werden seltener Kondome benutzt und Männer gefährden durch Untreue auch ihre Frauen.

"Leider haben viele Leute eine Scheu, über Sex zu sprechen - darunter Politiker, sogar Ärzte und Pflegepersonal." Man müsse entschieden mehr über Sex reden, erklären die Forscher übereinstimmend.

"Kein Ansatz, um die sexuelle Gesundheit zu verbessern, wird überall gleich effektiv sein", sagt Kaye Wellings von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. "Wir müssen endlich verstehen, warum und wie manche Maßnahmen in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen wirken."

Für viele Menschen können die Folgen fehlender oder falsch verstandener Aufklärung fatal sein. "Die bisherigen Erhebungen sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen lassen", sagt Van Look. "Wenn wir die Themen sexuelle und reproduktive Gesundheit nicht endlich offen und direkt ansprechen, werden wir noch viele Jahre eine hohe Rate an Todesfällen und Erkrankungen zu beklagen haben."

© SZ vom 4.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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