Abenteuer Arktis (6):Training mit dem Autoreifen

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Die Vorbereitung auf einen Arktis-Trip kann auf Mitmenschen zuweilen höchst irritierend wirken. Dementsprechend schräg wird man bei diversen Trainingsformen angesehen.

Birgit Lutz-Temsch

Am dümmsten - und leider auch angriffslustigsten - schauen die Hunde. Menschen, die Autoreifen hinter sich herziehen? Warum machen die das? Und: Ist das gefährlich?

Es sieht wohl gefährlich aus, denn nach einem skeptischen Heranschnüffeln entscheiden sich alle Vierbeiner für die Variante: Zähne fletschen, Ohren anlegen, bellen. Das sieht nicht nach Spielen aus. Und ist ein prima Eisbärtraining: Fluchtreflex niederkämpfen, nicht bewegen, stehenbleiben. Die Hunde verlieren langsam das Interesse.

Nicht so die Spaziergänger im Münchner Ostpark. Deren Blicke bleiben verdutzt an der Reifenkonstruktion hängen und man sieht richtig, wie es in den Köpfen arbeitet. Meistens enden die Überlegungen mit einem Gesichtsausdruck, der zeigt, dass man für völlig plemplem gehalten wird.

Für bekloppt hat mich auch schon Kollege Schmieder gehalten, als ich zum ersten Mal von meinem Training mit dem Autoreifen erzählt habe. Weil er aber mindestens so bekloppt ist wie ich, hat er sich spontan angeschlossen.

Dabei ist die Technik, mittels Autoreifen einen neuen Impuls auf die Muskulatur zu setzen, gar nicht so ungewöhnlich. Sprinter bedienen sich dieser Methode genauso wie Eisschnelläufer - nicht immer mit Reifen, aber mit Gewichten, die sie hinter sich herschleifen.

Speedbergsteiger Christian Stangl zieht in seinem Training einen 30 Kilo schweren Traktorreifen steile Geröllfelder nach oben. Das Gehirn und die Muskeln lernen dabei, mit einem größeren Widerstand umzugehen. Fällt der weg, bleibt die Kraft - und man wird schneller.

Schneller zu werden, ist nicht das Ziel vor einer Polartour. Der Reifen simuliert im Training den Schlitten, den man in der Arktis hinter sich herziehen muss. Und dafür braucht es eine Menge Kraft. In den Oberschenkeln und im Rücken etwa.

Das wissen aber die netten Mitarbeiter eines Münchner Autohauses nicht, denen man gegen einen Kaffeekassenbeitrag zwei ausrangierten Reifen abschwatzt, die man vorher prüfend in der Werkstatthalle über den Boden zieht. Die Blicke beginnen schon hier, seltsam zu werden.

Kann man das kaufen?

Dass man in München ist, merkt man selbst dann, wenn man Autoreifen an Seilen hinter sich herzieht: Denn Zuschauer, die einen nicht für wahnsinnig halten, vermuten sofort eine neue Trendsportart. "Wo kann man das kaufen?", fragen sie mit schrägem Blick auf die Seilkonstruktion, und "ist das wieder so was Neues?"

Zu kaufen gibt es die Konstruktion leider nicht, zumindest nicht fertig. Man nehme: einen Klettergurt, ein Seil, eine Kette und Karabiner, erhältlich in Baumärkten und im Sportfachhandel. Die Kette wird um den Reifen geschlungen, daran mit den Karabinern das Seil befestigt, und das wiederum mit Karabinern am Klettergurt.

So ausgerüstet stehen Kollege Schmieder und ich also an einem wolkenverhangenen Sonntagmorgen im Münchner Ostpark. Und staksen vom Parkplatz in den Park hinein, was auf dem Teer gewaltig Lärm macht.

Am Anfang scheinen die Reifen leicht, fast zu leicht. Aber ziemlich schnell lernen wir: Mit einem Reifen ist es wie mit einem Rucksack: Er wird mit jedem Kilometer ungefähr ein gefühltes Kilo schwerer.

Beim Ziehen über die Wiese ist der Widerstand schon deutlich höher. Bergauf werden wir von einem Läufer überholt. "Seid ihr der Sadomaso-Lauftreff?", fragt er im Vorbeilaufen. So sehen wir wohl aus.

Antworten können wir beide nicht mehr, so pfeifend atmen wir mittlerweile. Wir entscheiden uns für die harte Variante - immer nur den Rodelhügel hinauf und hinunter. Irgendwann nehmen wir jeder abwechselnd zwei Reifen. Und sehen bald Sterne vor unseren Augen.

Anderthalb Stunden rennen wir so durch den Park. Bei der Rückkehr zum Parkplatz verwirren wir noch ein paar Walkerinnen, die erst meinen, auf zwei erstaunlich junge daherstöckelnde Sportsfreunde zu treffen. Dann aber sehen sie die Autoreifen und bekommen auch diesen Gesichtsausdruck, der uns sagt: Irgendwie seid ihr ganz schön irre.

Das Training bleibt aber nicht ohne Erfolg: Die Rücken- und Oberschenkelmuskeln fühlen sich den ganzen restlichen Tag an, als hätte man sie mit einer Luftpumpe aufgeblasen. Und auf meiner verhassten Trainings-Laufstrecke am nächsten Tag bin ich einfach so drei Minuten schneller als sont. Ohne mich mehr anzustrengen.

Und was sagt der Kollege? "Wann kann ich wieder mit zum Reifentraining?"

sueddeutsche.de schickt eine Reporterin ins arktische Eis. In der wöchentlichen Kolumne "Abenteuer Arktis" werden die Vorbereitungen begleitet. Ab sofort können Sie alle Kolumnen auch bookmarken, um sie schneller zu finden: Unter www.sueddeutsche.de/arktis. Nächste Woche: Was macht die Kälte mit dem Körper? Der Expeditionsarzt Christoph Kruis über extreme Bedingungen in Polargebieten.

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