Zur Funktion von "Bild":Das Blatt vor dem Mund

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Denken wir, was Bild schreibt, oder schreibt Bild, was wir denken? Ob Pooth-Pleite, Fußball oder Hartz IV: Medienwissenschaftler Carsten Reinemann analysiert, wie ein Blatt Themen setzt und andere Medien folgen.

Marita Stocker

Carsten Reinemann, Medienwissenschaftler an der Universität Mainz, forscht über Wandel und Bedeutung der Bild -Zeitung. Wir haben mit ihm über Marktmacht, Populismus und die Selbstbezogenheit der Medienwelt gesprochen.

Liest die "Bild"-Zeitung aus wissenschaftlichen Gründen: Carsten Reinemann. (Foto: Bild: www.ifp.uni-mainz.de)

sueddeutsche.de: Bild erreicht täglich fast zwölf Millionen Leser. Hat die Zeitung ein Meinungsmonopol?

Carsten Reinemann: Nein. Die Zahl der Leser ist immens, aber entgegen aller Behauptungen lesen heute weitaus weniger Leute Bild, als das zum Beispiel noch in den sechziger Jahren der Fall war. Wenn man den Bevölkerungszuwachs durch die Wiedervereinigung wegrechnet, dann hat die Reichweite beträchtlich abgenommen.

sueddeutsche.de: Kann man Bild auch als Fiktion lesen? Als unterhaltsame Seifenoper mit wiederkehrenden Akteuren, mit Uschi Glas als "Mutter der Nation" und der Pooth-Pleite als Cliffhanger?

Reinemann: Das kann man natürlich so sehen. Aber ich denke, das ist eine sehr intellektuelle Betrachtungsweise, die weder dem entspricht, was diejenigen, über die berichtet wird, dabei empfinden, noch der Wahrnehmung der meisten Leute. Viele glauben das, was in Bild steht. Natürlich muss man auch zwischen den Berichterstattungsbereichen unterscheiden. Wenn über den drohenden Kollaps aufgrund eines bevorstehenden Meteoriteneinschlags berichtet wird, dann weiß jeder, dass das nicht unbedingt das ist, was wir tatsächlich zu erwarten haben. Aber wenn es um Politik oder Sport geht, dann wird das für bare Münze genommen.

sueddeutsche.de: Wird mit den Schlagzeilen - zum Beispiel über die Pooth-Pleite - der Volkszorn bedient?

Reinemann: Die Frage ist, ob er nur bedient wird oder ob das nicht ein bisschen mehr ist. Man kann natürlich mit einer publizistischen Macht, wie sie die Bild-Zeitung hat, tatsächlich Stimmung erzeugen. Wenn man sich anschaut, was Anfang dieses Jahres mit dem Thema "Ausländerkriminalität" passiert ist: Bild hat ab Weihnachten bis weit in den Januar hinein fast jeden Aufmacher mit diesem Thema gestaltet. Und auf der anderen Seite werden Themen zurückgehalten und verschwiegen, die vielleicht nicht so unbedingt ins Konzept passen.

sueddeutsche.de: Auf wessen Seite steht Bild?

Reinemann: Es gibt natürlich verschiedene Muster in der Berichterstattung, die sich gerade im Bereich der Politik ganz deutlich zeigen. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren zunehmend die Tendenz, die Politik nicht nur für die Lösung von Problemen verantwortlich zu machen - was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist -, sondern sie auch zunehmend als Ursache des Problems anzusehen. Und es wird vermehrt ein Kontrast zwischen der Bevölkerung und der Politik aufgebaut. Also: Wir da unten und die da oben. Und da stilisiert sich Bild als Vertreter von Volkes Stimme, als Anwalt der Benachteiligten.

sueddeutsche.de: Und mischt dabei kräftig in der politischen Debatte mit?

Reinemann: Die Parteien, die von Bild unterstützt werden, können sich tatsächlich nicht beklagen. Aber es ist nicht so, dass Bild alleine, als einzelnes Medium, einen wahlentscheidenden Einfluss hat. Dafür ist die deutsche Medienlandschaft zu vielfältig.

sueddeutsche.de: Einer Ihrer Aufsätze heißt: "Guter Boulevard ist immer auch außerparlamentarische Opposition." Wie muss man das verstehen?

Reinemann: Es gibt natürlich diese Selbststilisierung der Bild als außerparlamentarische Opposition. Bestimmte Themen werden von Bild immer wieder angegangen. Zum Beispiel die zurückgenommene Diätenerhöhung. Hier ist durch die Berichterstattung in Bild eine breitere Gegenöffentlichkeit entstanden. Man kann auch im Zusammenhang mit Hartz IV sehen, dass bestimmte Kleinigkeiten geändert wurden. Aber es ist nicht so, dass alleine auf Grund der Bild-Berichterstattung die großen Politikentwürfe zurückgenommen werden. Es ist eher so, dass die Politik den Einfluss dieses Blattes überschätzt und deswegen reagiert.

sueddeutsche.de: Bild ist zum Leitmedium der Meinungsmacher aufgestiegen. Was hat sich verändert?

Reinemann: Bild ist inzwischen die Tageszeitung, die von anderen Medien am häufigsten zitiert wird. Auch unter politischen Journalisten wird ihr der größte Einfluss auf andere Medien und auf die Politik zugeschrieben. Und das bedingt, dass man innerhalb des Journalismus darauf achtet, was Bild bringt. Es werden aber nicht nur Themen übernommen, sondern zuweilen auch der Zungenschlag. Außerdem wird die selektive Auswahl von Fakten nicht kritisch hinterfragt, und das ist tatsächlich ein Problem. Denn Bild ist immer noch das am häufigsten durch den Presserat gerügte Medium. Und man muss sich nur die Dinge auf BILDblog anschauen, dann sieht man doch, dass man da etwas genauer hinsehen muss.

sueddeutsche.de: Also macht Bild die Schlagzeilen, und die anderen Medien übernehmen diese unreflektiert?

Reinemann: Das ist in vielen Fällen so. Es fängt morgens mit der Übernahme der Bild-Schlagzeilen in den Radionachrichten an - insbesondere natürlich bei den privaten Radiosendern. Aber das geht eben auch in weite Teile der Tagespresse hinein, und es wird problematisch, wenn nicht mehr gesehen wird, dass man bestimmte Entwicklungen auch anders interpretieren kann.

sueddeutsche.de: Keiner liest Bild, aber jeder kennt die Themen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Reinemann: Das hat sich geändert. Bild ist inzwischen auch in den besser gebildeten Schichten angekommen. Man isoliert sich nicht mehr, wenn man die Bild in der Bahn aufschlägt und auch nicht in Kreisen, die Bild früher in der Tasche verborgen und erst im Büro gelesen haben. Dieser Wandel wird an vielen Dingen deutlich. Zum Beispiel scheut sich niemand davor, wirtschaftliche Kooperationen mit Bild einzugehen. Der Weltbildverlag, der von der Deutschen Bischofskonferenz getragen wird, hat mit Bild zusammen die Volksbibel gemacht. Die Scheu vor Bild hat nachgelassen, und das liegt auch daran, dass Bild sich verändert hat. Es ist nicht mehr das reine Sex-&-Crime-Blatt der achtziger Jahre. Natürlich hängt es aber auch damit zusammen, dass Bild als Medium noch sehr, sehr viele Leute auf einmal erreicht, und somit eine gewisse Macht in einer zunehmend zersplitterten Medienlandschaft hat.

sueddeutsche.de: Bild produziert handfeste Skandale, aber wenn in den eigenen Reihen etwas passiert, gibt es kein großes Rauschen im Blätterwald. So war die Aufregung über das 13-jährige "Seite-1-Mädchen" von recht kurzer Dauer. Wie gefährlich ist die fehlende Kontrolle?

Reinemann: Es gibt ja schon lange - auch durch BILDblog - den Versuch, eine kritische Öffentlichkeit zu schaffen und auch innerhalb des Journalismus ein kritisches Bewusstsein für die Macht der Bild-Zeitung zu wecken. Aber das hat meinem Gefühl nach relativ wenig Effekt. Trotz der journalistischen Fehlleistung und trotz der ethischen Fragen, die man an das Blatt stellen kann, wird es dennoch von Politikern und vielen anderen gesellschaftlichen Akteuren nach wie vor als das Medium gewählt, dem man Interviews gibt. Das hängt mit dem Eindruck zusammen, dass Bild Einfluss hat, und man es sich mit dem Blatt nicht verscherzen will.

sueddeutsche.de: Wie wäre die EM-Stimmung ohne Bild-Zeitung gewesen?

Reinemann: (lacht) Also ich glaube, eine gute Stimmung hätten wir auch ohne Bild gehabt.

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